Kapitel 36

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- Johannes' Sicht -

"Ich bin hier, um zu reden." Meine Stimme klang warm und ruhig. Als wäre Anna aus Glas und als könnte ich sie lediglich mit einem falschen Ton zum Zerbrechen bringen. Sie runzelte die Stirn und ließ Jakob und mich schließlich in die Wohnung. Es war unordentlich und muffig; hier wurde lange nicht mehr aufgeräumt oder gelüftet. Ich ging durch ins Wohnzimmer, öffnete zwei der großen Fenster und setzte mich aufs Sofa. Jakob ließ sich neben mich fallen und Anna blieb mit skeptischem Ausdruck im Türrahmen stehen.

"Worüber möchtest du denn reden? Ist nicht schon alles gesagt worden?", fragte sie verwirrt und gleichzeitig pampig. Sie weiß nicht, dass Nicci es mir erzählt hat, sonst würde sie nicht so reagieren. Allerdings tat es Nicci auch schrecklich leid, dass ich von der ganzen Sache auf solche Art und Weise erfahren musste. Sie dachte, ich wüsste von dem Baby, und dass ich nach dessen Verlust, Anna verlassen hätte. Scheinbar wollte sie uns nun den Rest alleine klären lassen und ihre beste Freundin nicht vorwarnen.

"Das dachte ich auch, aber scheinbar hast du mir ein wichtiges Detail verschwiegen." Anna wurde kreidebleich und begann scheinbar zu verstehen. Sie setzte sich zu uns; das schlechte Gewissen ins Gesicht geschrieben, die Hände im Schoß hin und her faltend.
"Hattest du überhaupt die Absicht mir von dem Kind zu erzählen?", fuhr ich sie an, da mir Ihre Antwort zu lang hinausgezögert vorkam. Aus mir wich jegliches Mitgefühl, welches nun reiner Wut Platz machte. Ich war lauter, als gewollt, schrie schon fast und ballte die Fäuste, um nicht aufzuspringen und ihr vielleicht noch mehr Angst einzujagen, als ich es ohnehin schon mit meinem eventuell bedrohlichen Ton tat. Jakob legte seine Hand auf meine Faust, was meine Muskeln etwas entspannen ließ: "Johannes", flüsterte er mit ruhiger Stimme und ich bekam direkt ein schlechtes Gewissen, dass ich so forsch war.

Anna richtete ihren Blick vom Boden auf Jakobs Hand auf meiner. Sie schluckte, schloss kurz ihre Augen und sah dann bittend zwischen uns hin und her: "Kann...Können wir alleine reden? ...Bitte?" Ich schaute zu Jakob; ich hätte ihn gerne hier behalten, seine Unterstützung gespürt. Doch ich konnte Anna verstehen und so nickte ich bloß kaum merkbar. Er drückte noch einmal kurz meine Hand, während seine Augen etwas undefinierbares ausstrahlten. Etwas, das mir Grund zur Sorge gab. Er strich im Vorbeigehen über Annas Schulter und dann war er auch schon wieder weg und ich blieb alleine mit Anna in unserem einst gemeinsamen Wohnzimmer zurück. Auf der Couch, für die wir uns nach ewiger Diskussion im Möbelhaus damals entschieden haben. Auf der ich sie so oft geküsst habe. Sie so oft berührt und ihre Nähe gespürt habe.

"Johannes..." Ihre Stimme riss mich aus meinen Gedanken. Sie klang so, wie mein Körper sich anfühlte; unkontrollierbar, zitternd, verletzlich. Doch ehe sie noch mehr sagen konnte, kam ich ihr zuvor: "Es wäre unser Kind gewesen, verstehst du? Ganz egal, ob wir zusammen sind oder nicht; es wäre auch meins gewesen!" - "Ich weiß", wimmerte sie, die erste Träne ihre Wange runterrollend. "Das weiß ich doch alles. Ich..Ich wollte es dir sagen, doch es kam immer etwas dazwischen und..." - "Was kann denn wichtiger sein, als die Information, dass wir ein Kind bekommen? Oder dass wir das Kind verloren haben?!" Mein harscher Tonfall tat mir im nächsten Moment selbst leid, als Anna ihre Ellenbogen auf ihre Knie stützte und ihr Gesicht in ihren Handflächen vergrub. In dem Moment wurde mir bewusst, dass es schwachsinnig war, sich hier gegenseitig Vorwürfe zu machen. Immerhin steckten wir quasi in derselben Situation und wir sollten eher füreinander da sein, als das alles hier unnötig noch schwieriger zu machen.

Ich rückte neben Anna und legte meinen Arm um sie. Sie zögerte einen Moment, lehnte schließlich jedoch ihren Kopf gegen meine Schulter. Nachdem ihre Atmung wieder regelmäßiger und wesentlich ruhiger war, sprach sie weiter: "Als ich von der Schwangerschaft erfahren hatte, hatte ich wahnsinnig Angst, vor deiner Reaktion." - "Aber warum? Du weißt doch, wie sehr ich mir schon immer ein Ki..." - "Ja, schon, aber ich hatte seit kurz vor Weihnachten das Gefühl, dass irgendwas bei uns nicht stimmen würde; im Nachhinein weiß ich ja auch, woran es lag, aber...Jedenfalls hat mich dieses Gefühl sogar dazu getrieben, dass ich an Silvester überhaupt getrunken habe - ich weiß, dass das komplett verantwortungslos war. Als ich dich und Jakob dann auch noch gesehen habe, habe ich endgültig die Kontrolle verloren. Ich wollte dir anschließend Zeit geben, dich zu entscheiden. Und wenn du von dem Baby gewusst hättest, wärst du bei mir geblieben, aber nicht aus Liebe, sondern weil du gedacht hättest, es wäre das richtige. Aber das wäre es nicht gewesen."

Ein lautes Schluchzen entfuhr ihr und sie brauchte eine Weile, um sich zu sammeln. In der Zeit hallten ihre Worte in meinem Kopf wieder, der sich ungewohnt schwer anfühlte. Zu viele Gedanken belasteten mein Gehirn, zu viele Schuldgefühle und zu viel Trauer. "Als du dich dann wirklich für Jakob entschieden hast, war ich so verletzt und stur, dass ich es einfach nicht sagen konnte...Es tut mir leid. Es tut mir leid, dass ich nichts gesagt habe. Dass ich das Baby verloren habe und immer noch geschwiegen habe. Dass du es so erfahren hast. Es tut mir leid."

Ich atmete schwer aus und zog sie in eine feste Umarmung, die sie erwiderte; ja, irgendwie war ich sauer, dass das alles so verlaufen musste. Doch man konnte nichts rückgängig machen und deswegen zählte lediglich der Gedanke daran, dass wir darüber hinwegkommen mussten. Es gab kein Anna und Johannes mehr. Es gab kein Baby mehr, das für mich eh nie in der Gegenwart existiert hatte. Und diese zwei Dinge mussten überwunden werden.

Ich blieb einige Stunden. Die meiste Zeit herrschte Schweigen, welches hin und wieder von unserem Schluchzen unterbrochen wurde.
"Ich hätte besser aufpassen sollen", flüsterte Anna irgendwann, während ihr Kopf auf meiner Brust ruhte. "Hör auf. Mach' dir keine Vorwürfe; wir beide haben Fehler gemacht. Es sollte einfach nicht sein." Ich bemühte mich, wenigstens ein bisschen überzeugend zu klingen, schlang meine Arme noch einmal fester um sie und drückte ihr einen Kuss auf den Scheitel. Sie stützte ihr Kinn auf, sodass sie mich ansehen konnte; in ihrem Blick lag so viel Verletzbarkeit. Ihre Mundwinkel zuckten kurz und kaum merkbar nach oben, ehe ihre Hand sich auf meinen Oberschenkel legte und auf der Innenseite etwas hochrutschte. Ich spürte Annas warmen Atem auf meinen Lippen, ehe sie diese mit ihren, auf denen ein salziger Tränenfilm lag, streifte und die Augen schloss.

Bis zum letzten MomentWo Geschichten leben. Entdecke jetzt