Kapitel 79

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~ Johannes' Sicht ~

Nervös im Wohnzimmer auf und ab laufend, wartete ich ungeduldig auf irgendeine Regung in Niels' Gesicht, die ich hätte deuten können. Ein Zucken seines rechten Mundwinkels vielleicht, das seine Erleichterung verriet. Eine Falte zwischen seinen Augenbrauen, die mir signalisieren würde, dass es vollkommen angebracht sei, in Panik auszubrechen. Seine Lippen, die er zu einem dünnen Strich zusammenpresste, was bedeuten würde, dass er auch nicht mehr weiter wüsste.
Ich beobachtete jeden seiner Gesichtszüge bis aufs feinste, während mein Herz unregelmäßig gegen meine Brust schlug. Und dann war sie da; diese kleine, kaum auffällige Falte zwischen Niels' Augenbrauen. Nur für einen winzigen Augenblick - aber sie war da, als er sein Handy von seinem Ohr nahm und einmal kurz aufs Display schaute, um sicherzustellen, dass er auf den richtigen Kontakt gedrückt hatte. "Er geht nicht 'ran", stellte er mit monotoner Stimmlage fest und ich unterdrückte mir ein Fluchen. Stattdessen fand nur ein verzweifelt klingender Laut den Weg aus meiner Kehle.
"Versuch's nochmal", bat ich den Gitarristen verzweifelt. "Johannes..." - "Bitte!" Er versuchte meinem flehenden Blick standzuhalten, scheiterte jedoch seufzend und drückte erneut auf Jakobs Namen in seiner Kontaktliste, hielt sich das Handy ans Ohr und ließ mich keine Sekunde aus den Augen, während das regelmäßige und schnelle Tuten aus seinem Handy sogar für mich hörbar war.
"Er hat sein Handy ausgeschaltet, Johannes. Wir können ihn nicht erreichen." - "Ist er bei Kris?", ignorierte ich seinen indirekten Appell zum Aufgeben. Niels zuckte mit den Schultern, schüttelte im Anschluss jedoch direkt mit dem Kopf: "Nein. Er hätte es bestimmt erwähnt. Kris wirkte gestern auf der Party genauso ahnungslos wie ich, als nach euch gefragt wurde." - "Scheiße", fluchte ich auf und ließ mich aufs Sofa fallen. "Er braucht sicherlich nur ein paar Tage Zeit, um nachzudenken. Das wird schon wieder", lächelte Niels sanft, worauf ich nicht einmal reagierte. Er hatte ja keine Ahnung.
Schwer ausatmend legte er sein Handy auf den Wohnzimmertisch, stützte seine Ellenbogen auf seine Knie und verschränkte seine Finger unter seinem Kinn: "Was ist passiert, Jo?" Ich spürte seinen durchbohrenden Blick so sehr, dass ich nicht einmal vom Boden aufsehen musste. "Jakob lügt mich nicht grundlos an. Irgendwas muss doch noch passiert sein." Ich schluckte den Kloß in meinem Hals hinunter und presste meinen Kiefer aufeinander. Ich war bis vor einer halben Stunde davon ausgegangen, dass Niels schon Bescheid wüsste. Wie sollte ich ihm denn jetzt bitte einfach so beichten, was ich angerichtet hatte? Er würde es ohnehin irgendwann erfahren - das war mir durchaus bewusst. Doch ich wollte ihm dabei nicht ins Gesicht sehen müssen, um in seinem Ausdruck ablesen zu können, wie er mich mit jedem weiteren Wort mehr zu hassen beginnt.

"Langsam bin ich's verdammt nochmal satt!", zischte Niels, als ich ihm auch nach einigen langen Sekunden keine Antwort geben konnte. "Ich hab' keinen Bock mehr, ständig zwischen den Fronten zu stehen und immer nur die halbe Wahrheit zu hören!" Frustriert stand er auf und stellte sich mit seinen Händen in den Hosentaschen vor die Fensterfront, um über Hamburg blicken zu können.
Wir verfielen in ein unangenehmes Schweigen, während Niels wahrscheinlich gerade innerlich seinen Frust 'rausließ und ich mit meinem schlechten Gewissen kämpfte.
"Okay. Ich helf' dir, Jakob zu suchen", murmelte der Gitarrist schließlich monoton. "Ich rufe Kris an; der soll vorbeikommen und dann teilen wir uns auf." Und damit verschwand Niels mit seinem Handy aus meiner Wohnung. Er kam auch nicht direkt wieder, reagierte sich stattdessen wahrscheinlich draußen ab, während er auf den ahnungslosen Kris wartete, mit dem er eine Viertelstunde später im Schlepptau wieder vor meiner Wohnungstür stand.

Wir setzten uns in die Küche, Kris sah gespannt in die Runde und Niels' erwartungsvoller Blick lag auf mir, während ich nervös mit meinen Fingern spielte und überlegte, wie ich Kris am einfachsten erklären sollte, weshalb er hier war.
"Ich brauche eure Hilfe", begann ich schließlich leise an ihn gerichtet. Er zog neugierig die Augenbrauen hoch und ich schluckte den Kloß in meinem Hals hinunter. "Jakob ist verschwunden..." - "Wie... verschwunden? Wohin? Und warum?" Ich wollte antworten, doch meine Zunge war wie gelähmt. Mein Körper verkrampfte und die ersten Tränen bahnten sich ihren Weg über meine Wangen, weshalb Kris überfordert über meinen Unterarm strich und Niels fragend ansah. Dieser atmete einmal hörbar aus und begann für mich das zu erzählen, was er wusste, und Kris' Fragen weitestgehend zu beantworten. Nur die Frage nach dem Grund der plötzlichen Trennung konnte Niels ihm nicht beantworten - und natürlich die Frage, wo Jakob steckte. Aber letzteres wusste ich ja auch nicht.

"Jakob braucht nach dem Streit wahrscheinlich einfach mal Luft, um den Kopf freizukriegen." - "Genau das gleiche habe ich auch gesagt", bestätigte Niels seinen besten Freund, der mich aufmunternd anlächelte und weitersprach: "Trotzdem sollten wir ihn wahrscheinlich wirklich suchen. Er kann 'n ziemlicher Dickkopf sein und wir brauchen ihn spätestens in zwei Tagen, wenn die letzten Proben wieder losgehen. Kopf hoch, Johannes. Egal weshalb ihr euch gestritten und getrennt habt; es wird schon nicht so schlimm sein, dass ihr euch nicht wieder zusammenraufen könnt, hm? Es war bestimmt nur 'ne Kurzschlussreaktion, wie ein paar Tage vorher bei dir."
Ich wusste, dass Kris es nur gut meinte und mich nur aufmuntern wollte. Doch er hatte ja keine Ahnung, was ich angestellt hatte und wie endgültig Jakobs Entscheidung war, sich von mir zu trennen. Die Chance, dass er mir verzeihen würde, lag quasi bei Null und ich konnte es ihm nicht verübeln.

"Er verkrampft schon wieder komplett", hörte ich Niels besorgt zu Kris über mich sagen. Ich musste mit der Wahrheit 'rausrücken; die beiden hatten verdient, zu erfahren, was los war, wieso ich so aufgelöst war und wieso niemand sich Hoffnungen machen sollte, dass zwischen Jakob und mir jemals alles wieder gut werden wird.
Mein Blick klebte förmlich an der Tischplatte, während ich den folgenden Satz vor mich hin stotterte: "I-ich... Ich hab'... Ja-Jakob betrogen."
Es folgte Stille. Qualvolle Stille.
Langsam hob ich meinen Blick und sah in die entsetzten Gesichter meiner zwei besten Freunde. Niels wurde kreidebleich und es spiegelte sich eine so enorme Angst in seinen Augen wieder, die ich nicht definieren und mir nicht erklären konnte. Wut hätte ich ja verstehen können, aber Angst?
Kris fand seine Stimme wieder: "Du verarscht uns", murmelte er - unterlegt von einem verzweifelt klingenden Auflacher. Anstatt zu antworten, schwieg ich, was ihm scheinbar vollkommen ausreichte: "Na, herzlichen Glückwunsch, Strate!" Er sprang von seinem Stuhl auf, fuhr sich mit der Hand durchs Gesicht und lehnte sich gegen die Küchenzeile, während er mich mit einer Mischung aus Unverständnis, Wut, Unglaube und Fassungslosigkeit ansah: "Das kann doch nicht dein beschissener Ernst sein, Mann!" - "Ich wollte das nicht", verteidigte ich mich mit gebrochener Stimme, obwohl ich wusste, dass das nichts an der Tatsache änderte, dass ich Mist gebaut hatte. Mein Brustkorb begann zu beben und ich wäre am liebsten nach draußen an die frische Luft gestürmt.

"Das ist das Allerletzte, mein Lie-" – "Wir müssen Jakob sofort suchen", unterbrach Niels Kris flüsternd. Er war immer noch kreidebleich und sah nun auf: "Wir müssen ihn schnellstmöglich finden", betonte er nochmal, stand auf und verließ wie in Trance die Küche, bis ich die Wohnungstür ins Schloss fallen hörte.
Ich wollte sofort hinterher und ihm bei der Suche helfen. Ihn fragen, was plötzlich mit ihm los war. Doch Kris, der seinem besten Freund ebenfalls irritiert nachgeschaut hatte, hielt mich zurück: "Untersteh dich! Du machst es eh nur schlimmer. Jakob braucht jetzt Freunde. Also warte hier, bis wir ihn gefunden haben, und bete zu Gott, dass er dich überhaupt noch sehen will."

Bis zum letzten MomentWo Geschichten leben. Entdecke jetzt