Kapitel 37

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- Johannes' Sicht -

"Anna", flüsterte ich in den einseitigen Kuss, als sie sich aufsetzte, ohne diesen zu unterbrechen. "Nicht..." Ich drückte sie sanft von mir. Ich sah in ihre glasigen Augen und entdeckte dort, wie das letzte kleine Stück Hoffnung in ihr brach. Sie versteckte ihre Tränen hinter ihren Lidern und wandte sich von mir ab. "Es tut mir leid, ich... Ich wollte doch bloß noch einmal spüren, wie..." Sie stockte und rutschte von mir weg. "Kriegen wir es irgendwann hin? Dass es wieder normal zwischen uns ist?" Als Antwort zuckte ich bloß mit den Schultern: "Vielleicht, ja. Irgendwann."

Zumindest war es das, was ich mir sehnlichst wünschte. Egal, was vorgefallen war, egal, wie sie mich angelogen hatte und egal, wie glücklich ich eigentlich mit Jakob sein konnte; Anna war mir wichtig. Das würde sie immer bleiben und sie in meinem Leben komplett zu missen, war eine schreckliche Vorstellung. Zu gut kannte ich sie; all ihre Macken, ihre Vorlieben, ihre Träume.

Mich verschlug es nicht direkt wieder zu Jakobs Wohnung. Ich musste den Kopf freikriegen, nachdenken. Ich zog eine ganze Weile durch den Park, beobachtete die Menschen um mich herum und vergaß dabei sogar kurz meine Sorgen. Ich setzte mich auf eine Bank und starrte gedankenverloren in die Ferne, wo ich irgendwann Blitze zucken sah. Die ersten Regentropfen prasselten hinab, der Park leerte sich und somit kehrten meine dunklen Gedanken zurück, machten sich in meinem Kopf breit und tyrannisierten mein Gehirn, das einfach mal abschalten wollte. Das zerreißende Gefühl in mir breitete sich schmerzhaft aus und ich war nicht in der Lage, mich auch nur einen Millimeter zu bewegen. Selbst, als aus dem anfangs leichten Nieselregen ein heftiger Schauer wurde, blieb ich wie angewurzelt sitzen. Ich nahm die dicken Tropfen wahr, die auf mir landeten, doch sie störten mich nicht daran, in meinen Gedanken zu versinken, mir Vorwürfe zu machen. Sie halfen mir jedoch dabei, die Tränen auf meinen Wangen unwichtig scheinen zu lassen. Denn was waren ein paar Tränen gegen so einen strömenden Regen?

Erst das Bellen eines Hundes ließ mich zurück in die Realität holen. Karli schnupperte an meinem Bein und freute sich sichtlich, mich zu sehen: "Hey, kleiner Mann", begrüßte ich ihn und tätschelte ihm den Kopf. Er trug tatsächlich so einen ziemlich bescheuert aussehenden Regenparker für Hunde. "Was machst du denn bei diesem Mistwetter hier?" Kris kam mit besorgtem Blick auf mich zu und blieb kurz vor mir stehen. "Das gleiche könnte ich dich fragen", entgegnete ich stumpf. "Hunde haben nunmal ihre Bedürfnisse; wenn sie mal müssen, dann müssen sie halt. Aber zumindest hab' ich einen Regenschirm dabei." Er ließ sich plump neben mich fallen und bot mir unter seinem Schirm Schutz, auch wenn es eh nichts mehr brachte; ich war bis auf die Knochen durchnässt.

Kris pfiff seinen Hund zu sich und leinte ihn wieder an: "Was ist los, Strate?" Ich schwieg. Ich wollte es nicht aussprechen, wollte es doch bloß vergessen. "Ist es, wegen eurem Outing? Johannes, du brauchst keine Angst haben, wir würden dich verstoßen oder so. Wir finden es..."  - "Es geht um Anna", stoppte ich sein Geschwafel, das eh in eine schier endlos lange Rede übergegangen wäre, die mit irgendeinem dummen Schlusssatz, wie 'Schwul ist cool' oder so, enden würde.
"Wegen dem, was Nicci angedeutet hat?" Glückwunsch, Hünecke. Ihre Fähigkeiten, eins und eins zusammenzuzählen sind beachtlich.

Ich nickte: "Sie hat unser Kind verloren." Im Augenwinkel konnte ich Kris' ungläubigen Gesichtsausdruck sehen: "Sie war schwanger?" - "Scheint so", murmelte ich mit einem dicken Kloß im Hals, begleitet von einem Schulterzucken. "Mann, das...Scheiße, das tut mir echt leid." Er legte behutsam seine freie Hand auf meinen Oberschenkel und starrte mit mir einfach wortlos in die Ferne. Das war das Gute an Kris. So viel und gerne er auch redete; er wusste immer, wann man lieber schweigen sollte. Und genau das war es, was ich gerade brauchte.

Das prasselnde Geräusch des Regens auf Kris' Schirm wurde immer leiser, bis es irgendwann nicht mehr zu hören war. Der Gitarrist schloss den Schirm und legte ihn neben sich auf die Bank: "Du solltest zu Jakob. Du bist vollkommen durchnässt, brauchst 'ne heiße Dusche, 'n Tee und..." - "Jay", unterbrach ich ihn. "Ich brauche Jay." Ein kleines, zufriedenes Lächeln legte sich auf Kris' Lippen und er nickte kaum merkbar: "Na, komm", flüsterte er mit einer Kopfbewegung, er stand auf und ich folgte seinem Beispiel. Karli vor uns her trottend, begleitete mich Kris bis zu Jakobs Wohnung. Dort angekommen umarmte er mich einmal fest und klopfte mir auf den Rücken: "Wir sind füreinander da. Immer." Dankbar nickte ich, drückte ihn noch einmal kräftig und löste mich dann von ihm, ehe ich die Treppen zu Jakobs Wohnung hoch lief und klingelte, da ich meinen Zweitschlüssel, den er mir bereits vor zwei Jahren gegeben hat (für Notfälle, wie er damals sagte) vergessen habe.

"Gott, endlich." Erleichtert atmete er aus und zog mich in die Wohnung. Er musterte mich besorgt von oben bis unten und schüttelte leicht den Kopf: "Bevor wir reden, musst du raus aus den Klamotten. Am besten gehst du erstmal duschen und..." Ich brachte ihm zum Schweigen, indem ich einen großen Schritt auf ihn zuging und meine Arme um ihn schlang. Ich wollte gerade nichts sehnlicher, als seinen Herzschlag zu hören und zu spüren, dass er da ist. Etwas perplex registrierte ich nach nur wenigen Sekunden Jakobs Hände an meinem Rücken, die mich noch enger an ihn pressten. Ich sog seinen Eigengeruch in mich auf und schloss die Augen, während ich den Moment genoss.
Ich löste mich nach ein paar Minuten, in denen wir einfach still dastanden und einander Halt gaben, ein winziges bisschen von ihm und legte meine Hände an seine Wangen: "Danke", hauchte ich, ehe ich mich vorbeugte und ihn mit aller Liebe küsste.

Bis zum letzten MomentWo Geschichten leben. Entdecke jetzt