Kapitel 22

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- Johannes' Sicht -

Ich stand eine gefühlte Ewigkeit mit dem Schlüssel in der Hand vor Annas und meiner Wohnung. Ich starrte die Tür pausenlos an und ging im Kopf noch einmal alles durch, was ich Anna sagen wollte. Ich atmete tief durch, drehte den Schlüssel im Schloss und öffnete die Tür: "Anna?", rief ich in die große Wohnung, doch erhielt keine Antwort. Ihre Schuhe standen neben der Garderobe und ihre Jacke hing direkt darüber. "Anna?", wiederholte ich leise, während ich durch den Flur schlich. Sie war weder im Schlafzimmer, noch in der Küche, im Ess- oder Wohnzimmer zu sehen.
Erst jetzt bemerkte ich, dass die Tür zu meinem Arbeitszimmer offen stand.
"Hier bist du", sagte ich mit zaghafter Stimme, als ich sie auf der alten Ledercouch sitzen sah. Sie strich sich schnell übers Gesicht - wahrscheinlich hatte sie gerade geweint. "Kann ich reinkommen?" - "Ist eh dein Zimmer", murmelte sie und zog ihre Beine hoch, um sich in den Schneidersitz zu setzen. Ich setzte mich zögerlich neben sie und sah, was sie in ihren Händen hielt; es war der Songtext von 'Guten Morgen Anna', der normalerweise direkt über meinem Schreibtisch neben einem Bild von uns beiden hing.

"Anna, ich wollte dir nie wehtun, hörst du? Es tut mir leid, dass das so gelaufen ist." Sie schluchzte und legte den Text beiseite, um ihr Gesicht hinter ihren Händen zu verstecken. "Es tut mir wirklich so sehr leid..." Er brach mir das Herz, sie so am Boden zerstört zu sehen. Immerhin dachte ich eine halbe Ewigkeit, sie sei die Liebe meines Lebens. Auch, wenn mein Herz vielleicht nicht mehr so nach ihr rief, wie es es einst tat, so war sie mir dennoch nicht egal - das würde sie wahrscheinlich nie sein. Dafür haben wir zu viel zusammen erlebt, zu viel zusammen durchgestanden, zu viel geliebt.
"Es muss dir nicht leidtun, dass du dich in jemand anderen verliebt hast", sagte sie, als sie sich etwas gesammelt hatte. Ich schüttelte mit dem Kopf und legte behutsam meine Hand auf ihr Knie: "Das meinte ich nicht. Ich meine, dass ich zu feige war, um dir die Wahrheit zu sagen. Und, dass ich nicht früher gemerkt habe, dass..." Ich stockte und sah beschämt zur Seite. "Dass du mich nicht mehr liebst? Dass du auf Männer stehst? Ja, hättest du das vorher bemerkt, hättest du uns einiges erspart. Aber es ist jetzt nunmal so."
Ich schwieg und musterte Anna eine Weile, was mein schlechtes Gewissen nur noch größer werden ließ.

"Wieso hast du nichts gesagt, nachdem du mich und Jay gesehen hast?", fragte ich schließlich und bekam als Antwort ein Schulterzucken: "Wieso hast du nichts gesagt?", konterte sie und ich verstummte wieder.
"Wahrscheinlich wollte ich einfach wissen, wann du die Eier hast, es mir zu beichten", begann sie dann. "Vielleicht aber wollte ich einfach noch ein letztes Mal eine schöne Zeit mit dir verbringen; es noch einmal genießen - insofern das mit den immer wiederkehrenden Bildern vor meinem inneren Auge klappt. Vielleicht war ich auch einfach naiv und hab gehofft, dass du bei mir bleibst." - "Ich kann nicht..." - "Ich weiß", erwiderte sie und zog gequält einen Mundwinkel nach oben.
"Du wirst deine weiblichen Fans ziemlich traurig machen, wenn sie erfahren, dass du nicht auf der Suche nach Misses Right bist", versuchte sie zu scherzen, ich schüttelte kaum merkbar mit meinem Kopf und mit immer noch ernstem Gesichtsausdruck sagte ich: "Es geht aber gerade nicht um meine Fans. Sondern um dich. Um dich und mich und wie es weitergehen soll." - "Na, wie schon? Jakob macht dich glücklich; schenk ihm das, was du in letzter Zeit versucht hast, mir zu schenken: Schenk ihm Liebe." - "Ich frage mich gerade, wie ich mit so einer tollen Frau, wie dir, zusammen sein durfte", flüsterte ich und zog sie in meine Arme. "Danke, dass du so verständnisvoll bist. Ich hätte auch verstanden, wenn du mir eine geklatscht hättest oder mit Tellern nach mir geworfen hättest." Sie musste tatsächlich etwas lachen, was gemixt mit ihren Tränen wirklich traurig aussah.

"Weißt du, je länger ich darüber nachdenke...Das zwischen uns konnte gar nicht funktionieren. Jakob hatte schon immer Vorrang. Er war immer der erste, der, wenn etwas spannendes, gutes oder schlechtes in deinem Leben passierte, Bescheid wusste. Du wolltest es immer als allererstes mit ihm teilen; nicht mit mir. Ich will nicht sagen, dass du mich nie geliebt hast. Vielleicht hast du das sogar sehr. Aber nie so, wie Jakob. Er war immer deine Nummer eins. Ich bin froh und stolz auf dich, dass du es dir endlich eingestehen konntest."
Sie stand auf und ging zum Fenster, aus dem sie schweigend starrte. Ich sah sie eine Weile an. Ja, wahrscheinlich hatte sie Recht. Vielleicht war mir Jakob schon immer irgendwie wichtiger. Vielleicht habe ich mich schon immer mehr zu ihm hingezogen gefühlt und ich habe es einfach nie als Liebe interpretiert.
Ich kaute auf meiner Unterlippe, ehe ich auf Anna zuging und sie stumm in eine feste, innige Umarmung zog. Ich stützte mein Kinn auf ihrem Kopf, während sie ihr Gesicht an meiner Brust vergrub, und so verweilten wir ein paar Minuten. Auch mir lief die ein oder andere Träne über die Wange; ich schrieb gerade die letzten Zeilen für ein riesiges Kapitel in meinem Leben.

Bis zum letzten MomentWo Geschichten leben. Entdecke jetzt