Kapitel 96

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Ich weiß nicht, wie spät es war, als mein Finger sich sekundenlang auf dem kleinen silbernen Knopf neben Niels' und Niccis Wohnungstür befand, bevor die Tür plötzlich so schwungvoll aufgerissen wurde, dass ich vor Schreck nach hinten taumelte und albern kicherte: "Moiiin", begrüßte ich Niels dann überschwänglich, als ich mich wieder gefangen hatte und meinem besten Freund in die Arme taumelte.
"Sei froh, dass Nicci in Amsterdam ist. Sie würde dich sonst sofort wieder 'rausschmeißen", murmelte Niels mit müder Stimme und drückte mich von sich. Er blinzelte noch einige Male, bevor er sich gähnend über die Augen rieb und mir resignierend Platz machte, damit ich in seine Wohnung torkeln konnte.

Plump ließ ich mich im Wohnzimmer aufs Sofa fallen und versank zwischen zwei riesigen Kissen: "Wieso bin ich kein Eichhörnchen?", seufzte ich traurig und nachdenklich. Fragend legte Niels den Kopf schief und zog seinen rechten Mundwinkel hoch: "Ein Eichhörnchen? Hast du etwa, abgesehen vom Alkohol, noch etwas anderes zu dir genommen?"
Ich widersprach ihm, indem ich müde mit dem Kopf schüttelte und anschließend meine Schuhe von meinen Füßen kickte. Mein bester Freund setzte sich ebenfalls auf die große bequeme Couch und sah mich abwartend an.
"Eichhörnchen vergraben immer wieder neu gesammelte Nüsse, weil sie vergessen, wo sie die alten verbuddelt haben. Sie fangen immer wieder von vorne an. Sie haben jedes Mal die Kraft dazu. Und ich komme nicht über meinen Ex hinweg und kann kein neues Leben ohne ihn in meinem Kopf anfangen? Wieso bin ich kein Eichhörnchen?" - "Äh..." Deutlich verdutzt und an meinem Verstand zweifelnd musterte Niels mich: "Weil du dann Johannes vergraben müsstest und das 'ne Straftat wäre?" - "Blödmann", nuschelte ich frustriert lallend, woraufhin der Gitarrist bloß mit den Schultern zuckte und mit zusammengezogenen Augenbrauen den Kopf schüttelte: "Tut mir leid, aber was erwartest du, was ich dazu sage?"

Schnaubend gab ich klein bei und schmollte ein
wenig vor mich hin. Das ganze Wohnzimmer schien sich zu drehen, weshalb ich mich zur Seite plumpsen ließ und die Beine anzog.
"Ist irgendetwas vorgefallen, von dem ich wissen sollte?" Niels klang plötzlich wieder besorgt und sein Blick musterte mich prüfend, während er aufstand, sich die Sofadecke schnappte und sie über mir ausbreitete, ehe er sich neben mich hockte.
"Nichts, worüber ich reden will." - "Ach Jakob." - "Ach Niels", gab ich im gleichen Stimmton wie er zurück, was ihn auflachen ließ und die Situation etwas lockerte.

"Ich überlege, mir einen Hund anzuschaffen", erzählte ich Niels gedankenverloren und er zog überrascht die Augenbrauen hoch: "Echt? Keine Eichhörnchen?" In meinem berauschten Zustand war ich nicht mal in der Lage, die eindeutige Ironie aus seiner Stimme herauszuhören.
"Nein. Ich denke, das wäre wie Tierquälerei oder sowas", murmelte ich also deswegen und bemerkte das breite Schmunzeln im Gesicht meines besten Freundes: "Bei dir fühlt sich sicherlich jedes Tier wohl." - "Das glaube ich auch." Ein warmes Lächeln stahl sich auf unser beider Gesichter.

Niels setzte sich nun auf den Boden und lehnte sich mit dem Rücken gegen das Sofa, während er wahrscheinlich darauf wartete, dass ich einschlief und er somit ebenfalls beruhigt schlafen gehen konnte. In meinem Kopf ging aber noch viel zu viel vor, um jetzt in einen tiefen Schlaf zu gleiten. So verstrichen also einige Minuten des Schweigens und ich ließ die kurze Zeit mit Johannes Revue passieren.

"Er hätte es einfach machen sollen."
Mit zusammengezogenen Augenbrauen und fragendem Gesichtsausdruck drehte Niels seinen Kopf wieder zu mir. Ich griff nach eines der weichen Kissen des Sofas und schlang beide Arme fest um dieses, als wäre es Jos Oberkörper, an den ich mich früher immer zum einschlafen gekuschelt hatte, wenn er nicht schneller war, um dies genau andersrum bei mir zu machen.
"Wer hätte was machen sollen?", hakte Niels dann doch nach, als ich nicht den Anschein machte, als würde ich von mir aus weitersprechen.
"Johannes. Er hätte nicht sagen sollen, dass er mich gerne küssen würde. Er hätte es einfach... tun sollen."
Überrascht schnappte Niels nach Luft, fand dann aber zunächst doch nicht die passenden Worte. Erst nach einigen Sekunden begann er zu sprechen, ohne den genauen Hintergrund zu erfragen: "Wahrscheinlich hättet ihr beide es im Nachhinein bereut." - "Vielleicht. Aber... Es wäre der perfekte Moment gewesen. Ich hätte endlich wieder seine Lippen gespürt."
Mitleid funkelte in dem klaren Blau der Augen meines besten Freundes. Ich wollte kein Mitleid. Genauso wenig wollte ich, dass sich alles um mich herum weiterhin so stark drehte, dass mir von Minute zu Minute schlechter wurde.

"Ich vermisse ihn, Niels." Das leise Flüstern, das meine Lippen ohne Aufforderung meines Gehirnes formten, klang für mich selbst so seltsam, als hätte es jemand anderes gesagt. Doch ich wusste, dass ich es war, der da gesprochen hatte, und ich wusste, dass es eine Untertreibung war, wenn ich von Vermissen sprach. Ich vergrub mein Gesicht im Sofakissen und kniff meine Augen fest zusammen, wollte auf der Stelle einschlafen und von etwas schönem träumen - etwas, das nichts mit Johannes zutun hatte.
"Ich weiß", hauchte Niels verständnisvoll und kurz darauf spürte ich seine Finger, die sich sanft durch meine Haare zogen, bis ich irgendwann langsam in einen unruhigen Schlaf glitt.

Bis zum letzten MomentWo Geschichten leben. Entdecke jetzt