Kapitel 97

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Warme Sonnenstrahlen fielen durchs große Wohnzimmerfenster auf mein Gesicht, weshalb ich - immer noch im Halbschlaf - meine Augen zusammenkniff. Der leicht apfelartige Geruch von Kamille stieg mir in die Nase und ich zog die dünne Sofadecke höher, um mein Gesicht darin zu vergraben und somit den Reizen auszuweichen, die drohten, mich endgültig aus meinem Ausnüchterungsschlaf zu reißen.

Es gelang mir tatsächlich, langsam aber sicher zurück in die Traumwelt abzudriften, als plötzlich die schrille Türklingel ertönte, die letzte Nacht durch mein eigenes Betätigen Niels aus seinem Schlaf geweckt hatte. Dennoch bewegte ich mich nicht, stellte mich weiter schlafend - in der Hoffnung, dass daraus Realität werden würde - und wartete ab.
Ich hörte Niels, wie er über den Flur schlurfte und die Tür öffnete, ehe er meinen Störenfried mit einem "Hey" begrüßte - er schien ihn also zu kennen.
"Moin", kam es zurück und ich schlug wie vom Blitz getroffen meine Augen auf. Es war Johannes' Stimme; unverkennbar und in einer riesigen Menge voll von plappernden Menschen hinauszufiltern.
Die Wohnungstür fiel wieder in ihr Schloss und Schritte näherten sich Richtung Wohnzimmer, das für die letzten Stunden als mein Schlafzimmer gedient hatte. Reflexartig schloss ich wieder meine Augen und versteckte mein Gesicht so gut es ging in dem Kissen und der Decke, während Johannes leicht genervt wieder zu sprechen begann: "Was gibt's denn am frühen Morgen so wichtiges?"

Niels antwortete vorerst nicht, bis die Wohnzimmertür geöffnet wurde und er sich mit leiser Stimme wieder an Jo richtete: "Ihn." - "Oh, verdammt", murmelte der Sänger gedämpft, woraufhin ich ihn verzweifelt aufseufzen hörte und mich bemühte, mich so realistisch wie nur irgend möglich weiter tief und fest schlafend zu stellen.
"Er ist letzte Nacht stockbetrunken hier aufgekreuzt. Das hat er schon lange nicht mehr gemacht." - "Ich kann mir schon denken, woran es lag..." Schritte ertönten erneut und das leichte Knacken von Knien verriet mir, dass sich jemand neben das Sofa hockte. Der unverwechselbare Geruch war definitiv Johannes zuzuordnen.
"Er hat ein bisschen was angedeutet", erklärte Niels im Hintergrund ruhig weiter. "So richtig durchgestiegen bin ich aber nicht und das muss ich auch nicht. Ich denke aber, dass... Dass ihr beide einfach mal reden solltet. Das habt ihr eigentlich nicht mal während eurer Trennung so richtig hinbekommen - vielleicht wird es langsam Zeit."

Es wurde kurz still. Ich hörte nur meinen gleichmäßigen Atem, ehe ich plötzlich kühle Fingerkuppen an meiner Wange spürte, die sanft über meine Haut strichen. So wie früher Ahoi-Brause auf meiner Zunge, fühlte sich jetzt Johannes' Berührung an.
"Danke, Niels", flüsterte mein Ex sanft und darauf bedacht, mich nicht zu wecken.
"Für euch beide würde ich einiges tun." Das leichte Schmunzeln war aus Niels' warmer, ehrlicher Stimme 'rauszuhören, bevor er das Zimmer zu verlassen schien und die Tür geschlossen wurde.

Es vergingen einige Sekunden, in denen Johannes weiter über meine Wange strich und ich mich bemühte, mir nicht anmerken zu lassen, was diese sanfte Geste in mir auslöste.
"Sind wir wirklich bereit zu reden?", nuschelte ich dann plötzlich in mein Kissen, woraufhin Johannes' Hand zurückschnellte und ich meine Augen ein Stück weit öffnete.
"Ich, ehm... Naja, wenn du wach bist..." - "Das meine ich nicht."
Er legte seinen Kopf leicht schief, stützte sich hoch und setzte sich über Eck neben mich aufs Sofa. Auch ich richtete mich langsam ein bisschen auf, wobei mich ein Schwall von Übelkeit überkam und ich erleichtert feststellte, dass der Kamillengeruch von der Tasse Tee kommen musste, die auf dem Wohnzimmertisch stand - Niels wusste, was mir bei einem Kater half. Leise stöhnend griff ich nach dem warmen Porzellan und trank ein paar wohltuende Schlucke, die mir dazu verhalfen, mich auf Johannes zu konzentrieren.

"Niels hat recht; wir müssen früher oder später mal richtig reden und nicht alles Geschehene so stehen lassen. Aber sind wir da jetzt schon bereit zu?"
Jo schien einen Moment lang zu überlegen und zuckte anschließend mit den Schultern: "Ich weiß es nicht. Aber wir haben keine andere Wahl, ansonsten geht das immer wieder von vorne los und... das haben weder wir, noch unsere Freunde verdient, die darunter schließlich auch leiden."
Es stimmt, was er sagte, und dennoch wollte ich es nicht wahrhaben. Nach sieben Monaten war ich immer noch nicht bereit, um über alles zu reden, doch wahrscheinlich gab es jetzt und hier in diesem Moment keinen Fluchtweg. Dennoch traute sich zunächst niemand von uns beiden, den Anfang zu machen.

"Ich... Ich bin wahrscheinlich derjenige, der beginnen und einiges erklären muss", murmelte Johannes nach wenigen Minuten resignierend und laut seufzend. Er räusperte sich und knetete nervös seine Hände im Schoß, während mein Blick sich erwartungsvoll hob.
"Ich weiß, dass es eigentlich keine Rolle mehr spielt und dass es keine Entschuldigung ist, aber ich möchte einfach nur, dass du weißt..." Er stockte und räusperte sich ein weiteres Mal. Er sah verzweifelt von mir zum Fernseher, von da aus aus dem Fenster und dann wieder zu mir, ehe es plötzlich nur so aus ihm heraussprudelte: "Verdammt, ja, ich bin dir fremdgegangen und daran gibt es nichts zu rütteln. Es ist egal, wie viel Alkohol ich intus hatte. Es ist egal, dass ich so betrunken war, dass ich erst mitten während des Sexes gemerkt habe, dass diese Frau nicht mein Freund ist. Das rechtfertigt die Scheiße nicht und das will ich auch gar nicht erst versuchen, aber du sollst einfach nur wissen, dass es nicht passiert ist, weil ich dich nicht mehr geliebt habe oder weil ich in dem Moment vielleicht enttäuscht oder wütend oder sonst etwas war. Ich habe es auch nicht getan, weil ich unzufrieden mit unserem Sex war oder weil ich mal wieder mit einer Frau schlafen wollte. Das alles war nicht der Fall, Jakob."
In seinen braunen Augen glitzerten kaum merkbar kleine Tränen auf, während ich mir auf die Wange biss und kurzzeitig vergaß zu atmen.
"Ich war einfach nur ein dummer Idiot, der für ein paar Tage vergessen hat, was es bedeutet, um seine große Liebe zu kämpfen."

Mein Blick schweifte von Johannes ab und ich drehte meinen Kopf, sodass er mein Gesicht nicht sehen konnte. Er sollte nicht sehen, wie nah ich den Tränen war. Die Wunde, die er damals mit seinem Seitensprung hinterlassen hatte, war noch längst nicht verheilt und das bekam ich gerade deutlich zu spüren.

"Was war das gestern?" Meine Stimme klang brüchig und schwach. Ich wusste nicht, was ich zu seinem kurzen, schnell heruntergeratterten Monolog hätte sagen sollen. Man könnte es nicht mehr ändern und ich ihm einfach nur dankbar, dass ich nach sieben Monaten endlich eine gewisse Erklärung erhalten hatte. Doch jetzt wollte ich Antworten zu der Situation vom Vortag im Studio.
"Sehnsucht, schätze ich." Johannes war so direkt und ehrlich. Ich wusste nicht, woher er plötzlich diesen Mut nahm, doch ich rechnete es ihm einfach hoch an - Ehrlichkeit war gerade das einzige, das uns weiterbringen würde. "Es tut mir leid, wenn ich dich überrumpelt habe." - "Was wäre, wenn wir uns wirklich geküsst hätten?" Er straffte seufzend seine Schultern, was ich erkannte, als ich meinen Kopf wieder zu ihm drehte. Ich bemühte mich nicht mehr, irgendwelche Emotionen zu verstecken.
"Ich glaube", begann ich leise auszusprechen, was mir durch den Kopf ging, "Es wäre für uns beide unbeschreiblich schön gewesen, aber im Endeffekt hätte es alles nur schlimmer gemacht."

Johannes nickte zustimmend und rutschte für einen Augenblick nervös auf seinem Platz hin und her. Es war unwichtig, wie sehr wir uns nach der Nähe des jeweils anderen sehnten und uns damit quälten, dass wir sie uns selbst verweigerten. Es war unwichtig, weil wir uns diese Nähe schlicht und ergreifend nicht erlauben durften - jetzt noch nicht und auch nicht ein paar Wochen, Monaten oder Jahren. Es durfte einfach nicht sein. Wir durften nicht zulassen, dass wir uns und unsere Freunde wieder in solch eine Situation bringen, wie wir sie zuletzt hatten.
"Wir müssen gewissen Abstand bewahren, Johannes", flüsterte ich schwach und hörte dabei den Riss, der sich gerade durch mein Herz zog.
"Jay..." Er klang flehend, ängstlich, doch ich unterbrach ihn: "Wir müssen einfach, hörst du?"

Johannes sah mich lange an. In seinem Ausdruck spiegelte sich der Widerwille, doch letztendlich nickte er einfach mit aufeinandergepressten Lippen und einem Tränenschleier vor den Augen. Dann trat Stille ein.

"Ich werde dich niemals darum bitten, mir zu verzeihen", hauchte Jo schließlich und brach somit unser Schweigen. "Das wäre zu viel verlangt. Aber vielleicht werden wir ja irgendwann den Punkt erreichen, an dem wir ehrlich und aufrichtig wieder sagen können, dass wir Freunde sind."

Bis zum letzten MomentWo Geschichten leben. Entdecke jetzt