Kapitel 81

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Es waren fast zwei Stunden vergangen, in denen ich durch meine vertraute Heimatgegend spaziert war, bis ich mich letztendlich für meinen früheren Lieblingsort entschieden hatte; ein kleiner, dreckiger See in der Mitte eines Waldes - nur einen Kilometer von meinem Elternhaus entfernt.
Dort ließ ich mich erschöpft und müde auf den Boden sinken und starrte auf das ruhige Wasser vor mir, was ich schon als Kind immer getan hatte, um über alles nachdenken zu können. Wieder einmal brannten Tränen in meinen Augen, doch wieder einmal verbot ich ihnen, sich ihren Weg über meine Wangen zu bahnen.

Das hörbare Zerbrechen eines Stockes riss mich irgendwann aus meinen Gedanken und katapultierte mich unsanft zurück ins Hier und Jetzt. Ich schreckte auf und ließ meinen Blick nach links schnellen, von wo ich das Geräusch wahrgenommen hatte; Kris stand zu meiner Überraschung mit in den Hosentaschen vergrabenen Händen nur wenige Meter von mir entfernt und musterte mich Häufchen Elend: "Moin", begrüßte er mich kurz angebunden, ehe ich seinem durchbohrenden Blick abrupt wieder auswich und nach vorne starrte - er sollte meine Verletzlichkeit nicht sehen.
"Was machst du hier?", schoss es dann plötzlich aus mir heraus, was Kris sarkastisch auflachen ließ: "Drei Mal darfst du raten."
Er kam mir näher und ließ sich stöhnend neben mich fallen. "Ich fahre extra vierzig Minuten, um Holz für meinen Kamin zu holen, weil ich gehört habe, dass das Holz aus diesem Wald besonders romantisch knistern soll. Konnte ja nicht ahnen, dass ich dich dabei finde", scherzte er voller Sarkasmus, worauf ich mit einem Augenrollen antwortete. "Nach zwei langen Wochen", schob er leise an, wobei ich den bitteren Unterton heraushörte. Ich konnte es ihm ja nicht einmal übelnehmen; ich wäre auch sauer, wenn einer meiner besten Freunde allen etwas vormacht und einfach ohne jedes weitere Wort untertaucht. Aber ich brauchte das einfach. Ich brauchte es für mich; einmal im Leben wollte ich auch mal so egoistisch sein.

"Wir konnten die Aufnahme übrigens verschieben."
Ich riss meine Augen auf und starrte geschockt zu Kris, der monoton auf den See vor uns starrte, in dem sich der immer dunkler werdende Himmel spiegelte, den man durch die Baumkronen erahnen konnte.
"Die Aufnahme", flüsterte ich ungläubig. "Scheiße." Seit gestern sollte Revolverheld sich eigentlich im Proberaum verschanzen und nochmal ordentlich alles wiederholen, was wir in den letzten Monaten zusammengebastelt hatten. Es wäre unser erstes Album, seit dem MTV Unplugged, und nicht nur unsere Fans warteten ungeduldig auf neue Songs; auch wir hatten es kaum abwarten können, sie endlich im Studio aufzunehmen.
Ab nächster Woche hätten wir eigentlich zahlreiche Termine dort gehabt, doch dass wir die nicht wahrnehmen konnten, lag praktisch auf der Hand, wenn der Drummer spurlos verschwunden war und man nicht wusste, ob er rechtzeitig zu den finalen Proben - geschweige denn zur Aufnahme - wieder aufgetaucht sein würde.

"Verdammt, es tut mir leid; ich hab's total vergessen." - "Machen wir uns nichts vor; in deinem und Johannes' Zustand wäre da nie im Leben etwas bei 'rumgekommen. Bedankt euch also bei Sascha. Der Arme hat sich richtig für die Verschiebung 'reingehängt und hat die Kacke jetzt am dampfen."
Oh Gott, und wie wütend Kris war. Ich hatte ihn noch nie so kühl mir gegenüber erlebt. Aber was sollte ich auch anderes erwarten? Jo und ich hatten in den letzten Wochen nicht nur seine Nerven strapaziert; nein, jetzt zogen wir auch noch seine Karriere mit 'rein.

Es wurde unsagbar still. Lediglich ein Frosch gab auf der anderen Seite des Sees sein kleines Konzert.
Ich wusste immer noch nicht, was Kris hier machte, doch ich konnte mir schon denken, dass meine Eltern nach meinem überraschenden Abgang Niels doch noch zurückgerufen haben. Allerdings hatte ich keine Ahnung, wieso er dann nicht selbst hergekommen ist.

"Wie..." Ich räusperte mich beschämt und unterbrach damit die Stille, die nun seit mindestens geschlagenen fünf Minuten zwischen Kris und mir herrschte. "Wie geht's Johannes?"
Innerlich ohrfeigte ich mich selbst für diese Frage. Ich sollte mich nicht für Johannes interessieren; mir sollte es egal sein, wie es ihm ging. Er war mir fremdgegangen - er verdiente meine Sorge nicht.
Kris dachte sich in dem Moment wahrscheinlich genau dasselbe, als er mich mit skeptischen Blick ansah und ich zum ersten Mal heute Emotionen in seinem Ausdruck entdeckte; Mitleid. Ich schaute schnell wieder weg aufs Wasser, um mich dem nicht auszusetzen, doch ich spürte seinen Blick förmlich auf meiner Haut brennen.

"Wie geht es dir?", stellte Kris seine Gegenfrage in einem so sanften Ton, wie ich ihn selten bei ihm gehört hatte.
Schulterzuckend hob ich ein Blatt vom Boden auf und zerpflückte es in winzig kleine Einzelteile, wobei der Gitarrist mir geduldig zusah und jede meiner Bewegungen beobachtete. "Es tut weh", murmelte ich schließlich leise. "Das ist das einzige, das ich momentan weiß."

"Er hat es nicht getan, um dich zu verletzen, Jakob", scheiterte Kris kläglich beim Versuch, mich aufzumuntern.
"Ach echt? Warum hat er es denn getan? Nenn mir einen vernünftigen und nachvollziehbaren Grund und ich fahre sofort zurück nach Hamburg und verzeihe Johannes." Kris sah mich verzweifelt an. Ich wusste, dass ich meinen Frust wirklich nicht an ihm auslassen sollte, doch etwas anderes gelang mir gerade einfach nicht.
"Es gibt keinen vernünftigen Grund. Was er getan hat, ist nicht zu entschuldigen, und du kannst mir glauben; ich bin selbst tierisch wütend auf ihn. Aber du musst einfach wissen, dass es nicht an dir liegt." - "Lass gut sein, Kris", bat ich ihn fast schon flehend und tatsächlich beließ er es dabei. Er legte einfach nur seinen Arm um meine Hüfte und wie auf Kommando ließ ich mich gegen meinen besten Freund fallen und vergrub mein Gesicht an seiner Schulter. Es dauerte einige Sekunden, bis ich die ersten Tränen aufkommen spürte und dieses Mal gab ich meinen Kampf gegen sie auf und ließ sie einfach laufen. Zum ersten Mal seit über zwei Wochen gestand ich mir selbst ein, dass es sinnlos war, sich das Weinen zu unterdrücken, und dass man es manchmal einfach 'rauslassen musste.
Und Kris war da, um mich zu halten - damit ich nicht komplett den Boden unter meinen Füßen verlor. Er war einfach da und hielt mich in seinem Arm, während ich seinen dünnen Pullover mit Tränen tränkte und meine Finger hinein krallte.

Ich weiß nicht, wie lange wir so da saßen. Vermutlich eine halbe Ewigkeit. Ich hatte immer wieder versucht, mich zu beruhigen, doch jedes Mal bin ich kläglich gescheitert und endete in einem noch lauteren Schluchzen.

"Es tut mir wirklich leid, Kris", flüsterte ich, als ich mich letztendlich total müde und leer fühlte, als ob wirklich keine einzige Träne in mir drinnen mehr vorhanden war. "Dass ich Niels angelogen habe und einfach abgehauen bin. Dass ich euch solche Sorgen bereitet habe und dass wir meinetwegen das neue Album erst viel später aufnehmen können. Es tut mir leid."
Kris' Hand wanderte an meiner Seite hinauf und strich schließlich über meinen Kopf, der immer noch auf seiner Schulter ruhte. "Darüber sollten wir reden, wenn Niels, Sascha und alle anderen Beteiligten auch dabei sind. Das alles war zwar eine ziemlich beschissene Aktion, aber glaub mir; unter den Umständen kann dir das doch niemand wirklich übel nehmen." Er seufzte und fuhr dann leise fort: "Wir werden jetzt erstmal schauen müssen, wie das alles weitergeht. Mit dir und Jo, mit dem Album... mit Revolverheld. Bis dahin ruhst du dich aus."

Bis zum letzten MomentWo Geschichten leben. Entdecke jetzt