Kapitel 87

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Kris und ich hatten, nach längerem Genörgel seinerseits, abgemacht, dass wir uns am ersten Probetag schon etwas früher im Proberaum trafen. Er wollte unbedingt wissen, ob und was denn nun an dem Abend, an dem er mich zu der Schwulenbar geschleppt hatte, noch gelaufen ist. Da ich ihm allerdings partout nichts über WhatsApp oder in einem Telefonat erzählen wollte und wir innerhalb der letzten Tage keine Zeit gefunden hatten, um uns zu sehen, bestand er nun darauf, mich bereits um halb elf, statt um elf, im Proberaum zu treffen.

Mit den Händen tief in den Taschen meines dünnen Mantels vergraben, machte ich mich auf dem Weg zur U-Bahnstation, während der kühle Wind mir um die Ohren pfiff. Der Herbst machte sich von Tag zu Tag mehr bemerkbar und ich wünschte mich immer ein bisschen sehnlicher in einer wärmere Gegend. Doch nun stand wirkliche das Album an erster Stelle und dieses Mal würde ich die Band nicht im Stich lassen.

Ich erreichte mit nur drei Minuten Verspätung unseren Proberaum, wo mich Kris schon erwartete. Er saß auf der alten Ledercouch und deutete, als er mich bemerkte, auf einen Kaffeebecher auf dem kleinen Holztisch vor ihm: "Ich hab' uns Kaffee mitgebracht; bedien dich, setz dich und rede." - "Seit wann bist du denn so neugierig?", erwiderte ich lachend und setzte mich ihm gegenüber, bevor ich nach dem wärmenden Getränk griff und meine Finger daran wärmte.
"Tu mal nicht so, als ob ich das nicht schon immer gewesen wäre. Und jetzt lenk nicht ab, Mann. Ich habe nur noch..." Er warf einen raschen Blick auf seine Armbanduhr: "... Fünfundzwanzig Minuten Zeit, um zu hören, wie dankbar du mir dafür bist, dass ich dich aus deiner Wohnung und in eine Schwulenbar gebracht habe."

Ich schmunzelte und zog provozierend meine linke Augenbraue nach oben, nippte an meinem starken Kaffee und seufzte schließlich genüsslich, um meinen Gegenüber noch ein wenig zu quälen. Kris warf mir einen genervten und mahnenden Blick zu, ehe er in tiefem Stimmton sagte: "Jakob Sinn. Was ist Freitagabend noch passiert?"

"Hier, ich hoffe, du magst..." Rick stockte und sah stirnrunzeld das große Glas mit rötlicher Flüssigkeit darin an, welches er eben noch in seiner Hand hielt, ehe er es vor mich gestellt hatte. "...das, was hier 'drin ist. Mir fällt der Name nicht ein." Er lachte peinlich berührt auf und ich konnte erkennen, wie sich seine Wangen zartrosa färbten. Ich musterte Rick für einen Augenblick und erst jetzt fiel mir auf, wie unsicher er selber war. Sein linker Mundwinkel zuckte - bei genauerem Hinsehen -, wie ich es von Arne kannte, wenn er nervös war. Das relativ schnelle Heben und Senken seines Brustkorbes verriet seine unruhige Atmung. Entweder er sprach nur selten jemanden an oder er schien wirklich Gefallen an mir zu haben. So oder so; Rick hatte Angst, etwas falsch zu machen.

"Dankeschön", lächelte ich und nahm einen Schluck vom süßen Cocktail, ohne meine Augen von dem Blondhaarigen zu nehmen. Ich durfte keine Schwäche zeigen, wenn ich meine Taktik von früher wieder übernehmen wollte, bei der ich mit einem selbstsicheren Auftreten und charmanten und zugleich anzüglichen Sprüchen so ziemlich jede Frau 'rumgekriegt habe; ich war mir sicher, dass die Methode bei Männern genauso ziehen würde.

Rick wich meinem Blick beschämt aus und ich verbot mir ein kleines, erstes siegessicheres Schmunzeln. Stattdessen rutschte ich mit meinen Hocker ein winziges Stück näher an ihn, stützte mein Kinn auf meiner Hand auf und legte meine freie Hand locker auf Ricks Knie, woraufhin ich sofort spürte, wie sich sein Körper anspannte, was ich allerdings ignorierte: "Und du kennst dich also aus in solchen Bars?" Ich setzte den Begriff mit der Hand, mit der ich mich zuvor noch abgestützt hatte und dies sofort auch wieder tat, in Anführungszeichen, genau wie er wenige Minuten zuvor, als er feststellte, dass ich ein 'Neuling' hier war.
"Hm, wie man's nimmt." Er zuckte verlegen mit den Schultern und ich bemerkte, wie er bei einem kaum auffälligen Blick auf meine Hand auf seinem Knie nervös schluckte.
"Aber vermutlich mehr als du", bemerkte er dann überraschend frech und ich schmunzelte.

Rick erzählte mir einiges von sich, doch ich bekam nur ein paar Informationen mit. Nicht, dass der Rest nicht interessant gewesen wäre, jedoch war ich eher darauf konzentriert, wie ich mein Ziel erreichen konnte. Ich war zwar noch längst nicht über Johannes hinweg, aber Kris hatte Recht; ich musste mal meine Wohnung verlassen und etwas 'rumkommen. Das bedeutete ja noch längst nicht, dass ich über Johannes wegkommen würde, aber es war vielleicht der erste Schritt.
Somit bekam ich nur mit, dass Rick tatsächlich gerade erst achtundzwanzig Jahre alt war und er sich vor einem Jahr erst eingestanden hat, schwul zu sein. Und wenn ich das richtig deutete, hatte er auch noch nicht all zu oft Erfahrungen mit Männern gemacht, was wiederum auch seine Nervosität erklären würde, die immer stärker zu werden schien, je öfter ich Körperkontakt suchte und die ein oder andere Andeutung machte.
Allerdings störte mich diese Unerfahrenheit überhaupt nicht; ganz im Gegenteil.

"Und was ist mit dir?" Erwartungsvoll sah Rick mich an, als er scheinbar seinen Bericht beendet hatte.
"Hm?" - "Na, was sollte ich so über dich wissen?" Skeptisch zog ich die Augenbrauen zusammen und dachte kurz nach. Ich wollte nicht viel über mich preisgeben, da es immerhin noch einiges an Chaos in meinem Leben gab, das niemanden etwas anging. Außerdem war das hier kein Date, sondern lediglich die Vorarbeit für einen One Night Stand.
"Mh, mir fällt nichts interessantes ein." Meine Stimme klang dunkler als gewöhnlich und ich platzierte meine Hand wieder auf Ricks Bein. "Liegt vielleicht daran, dass ich gedanklich ganz woanders bin."
Sein unsicherer Blick schweifte zwischen meiner Hand und meinen Augen hin und her, doch bevor er etwas hätte sagen oder tun können, lehnte ich mich vor und drückte meine Lippen auf seine. Er erwiderte ohne eine Sekunde zu zögern und ich spürte, dass er Gefallen daran fand - vielleicht sogar ganz glücklich war, dass ich den ersten Schritt machte.

"Sagen wir es mal so", begann ich mit einem leichten, dreckigen Lächeln auf dem Gesicht Kris zu erzählen, "Der Abend hat sich durchaus gelohnt." - "Du hast jemanden aufgerissen!", schlussfolgerte Kris grinsend und schlug einmal in seine Hände. "Du kannst mir später danken. Ich weiß doch, wie gut Sex tun kann." - "Spinner", lachte ich kopfschüttelnd und verdrehte die Augen. Natürlich war es zu großen Teilen sein Verdienst, dass ich mal wieder Sex hatte, anstatt meinem Ex hinterherzutrauern, doch er sollte sich ja nichts darauf einbilden. Deswegen wollte ich auch erstmal für mich behalten, dass ich mich seit vergangenem Freitag noch zwei weitere Male mit Rick getroffen habe und gerade gestern erst wieder in derselben Schwulenbar war, die ich auch dieses Mal nicht alleine verlassen hatte.

"Du triffst dich mit jemanden?" Mein Blick schnellte zur Seite und mein Herz setzte einen Schlag aus, als ich Johannes im Türrahmen stehen sah. Er wirkte gefasst, doch ich kannte ihn gut genug, um nur anhand seiner zu einem Strich aufeinander gepressten Lippen sagen zu können, dass er kurz davor war, die Fassung zu verlieren. Vor Wut, vor Verletzbarkeit oder vor Trauer.

Kris räusperte sich peinlich berührt und holte sein Handy aus seiner Hosentasche, um sich aus der Situation 'rauszuhalten.
Ich straffte meine Schultern: "Mehr oder weniger."
Johannes nickte einmal mit dem Kopf und wandte seinen Blick von mir ab. Er war verletzt. Er hatte sich vielleicht langsam damit abgefunden, dass er mich von sich vertrieben hatte, doch er war nicht darauf vorbereitet gewesen, dass ich irgendwann anfange, ein neues Kapitel zu leben - mit anderen Männern.

Johannes zu sehen, versetzte mir einen Stich. Ich hatte gewusst, dass unser Zusammentreffen heute nicht leicht werden würde - für keinen von uns -, aber jetzt, wo es auch noch so beginnen musste, erschien die Situation noch viel unerträglicher, als gedacht. Ich wollte ihm schließlich auch nicht unter die Nase reiben und ihm damit wehtun, dass ich mich mit anderen traf.
"Dann..." Er sah mich wieder an und ich erkannte sofort, wie er mit sich selbst und seiner Selbstbeherrschung rang. Kopfschüttelnd strich er sich durchs Gesicht und setzte neu an: "Ich hoffe, dir geht es gut."
Stumm hielt ich seinem Blick Stand. Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte. Ich wusste nicht einmal, was ich von seiner Aussage halten sollte.

Johannes atmete tief durch und deutete in den Raum hinein: "Ich ehm... Ich wollte eigentlich nur meine Gitarren stimmen, bevor wir mit der Probe loslegen." Hastig ging er an mir vorbei und widmete sich seiner Arbeit.
Ich unterdrückte mir einen verzweifelten Seufzer und sah zu Kris, der seinen Blick nun von seinem Handydisplay lösen konnte und mich gequält aufmunternd anlächelte.

Das konnten ja schöne Aufnahmewochen werden.

Bis zum letzten MomentWo Geschichten leben. Entdecke jetzt