Kapitel 94

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Mit schwitzigen, zittrigen Hände umklammerte ich das kühle Glas der Bierflasche. Meine Daumen knibbelten an dem Etikett herum, während mein Blick ihre Bewegungen verfolgte und mein Herz laut und schnell gegen meinen Brustkorb schlug.
Ansonsten hörte ich nichts. Es war still im Raum und ich fragte mich, wieso ich auf Johannes' Angebot allen Ernstes eingegangen war und nun hier mit ihm im Studio saß und ein Bier trank. Nach seiner Frage, hatte neunundneunzig Prozent meines Verstandes mich angeschrien, abzulehnen und sofort zu gehen. Der übriggebliebene eine Prozent flüsterte leise, ich solle mich setzen und mich einfach darauf einlassen - er gewann. Was genau ich mir bei dabei gedacht hatte, wusste ich selbst nicht so recht.

"Was hast du eben gespielt?" Johannes klang sehr sanft und vorsichtig. Als wäre ich ein verschrecktes Reh, das er nicht verscheuchen wollte. "Ich meine, Songs von uns oder..." - "Keine bestimmten Lieder. Einfach irgendwas. Ohne nachzudenken." Ich blickte langsam auf und konnte Jos linken Mundwinkel dabei beobachten, wie er sich zaghaft nach oben zog: "Dabei kamen bei dir schon immer die besten Sachen 'rum."
Ich lachte leise auf, nickte und zog die Finger meiner rechten Hand durch meine Haare: "Ja, das stimmt wohl." Dieses kurze Lachen lediglich in der Gegenwart von Johannes war ein weiterer Meilenstein, der so unglaublich befreiend auf mich wirkte. Es machte mir Hoffnung auf Normalität zwischen uns, die wir uns beide wahrscheinlich sehnlichst wünschten und nach unserer gemeinsamen Vergangenheit auch definitiv verdient hätten.

"Was... Was hast du eigentlich so getrieben? Die ganze letzte Zeit." Ich wagte es endlich, diese Frage zu stellen. Die Frage, die seit Wochen auf meiner Zunge gebrannt und mir den Schlaf geraubt hatte. Johannes hatte es geschafft, mich nach meinem aktuellen Beziehungsstatus zu fragen, also wieso sollte ich mich dann nicht auch danach erkundigen, was er in all der Zeit getrieben hatte, in der ich nichts von ihm gehört hatte?
Er selbst schien mit dieser Art von Frage nicht gerechnet zu haben und holte tief Luft, bevor sein Blick nachdenklich durch den Raum schweifte: "Im Prinzip eigentlich nichts. Ich denke, von meinem
Umzug hast du schon gehört, aber ansonsten..." Er straffte lustlos seine Schultern und lächelte schwach. Seine Augen strahlten Traurigkeit und Reue aus.
"Und du?" - "Bis vor wenigen Wochen, dasselbe, schätze ich." Er nickte verständnisvoll, ehe er seine Bierflasche an seine Lippen führte, einen großen Schluck nahm und anschließend an mir vorbei starrte.

Jetzt waren wir also doch an diesem ernsten Punkt angekommen, den wir beide wahrscheinlich vermeiden wollten. Immerhin wussten wir beide ganz genau, dass unsere Trennung der Grund dafür war, dass wir beide die letzten Monate mit Nichtstun verbracht hatten. Wir hatten beide mit dem unsagbaren Gefühlschaos und demselben Liebeskummer zu kämpfen, der uns sämtliche Kraft und Lust geraubt hatte, möglichst schnell einen Neustart zu wagen. Es ließ sich einfach nicht ausblenden, dass sowohl Johannes, als auch ich nach der Trennung in eine Art Schockstarre verfallen waren.
"Jakob...", begann Jo leise und bereuend, dem vermutlich das gleiche durch den Kopf ging.
"Nein. Bitte lass es. Egal, was du jetzt sagen willst; sag's nicht." Meine Stimme klang flehend und zitternd. Es war gerade alles so schön gewesen; ich wollte nicht, dass irgendetwas diesen Moment kaputt machte. Jo nickte kurz und senkte seinen Blick: "Okay."

Stille trat ein und ich begann erneut, mit dem Etikett der Bierflasche zu spielen. Mein Kopf brummte, obwohl er sich ungewöhnlich leer anfühlte. Verzweifelt suchte ich nach irgendeinem Gesprächsthema, das ich hätte aufgreifen können, um eine ähnlich schöne Situation wie eben zurückzuerlangen.

"Hast du..." Ich räusperte mich, um den Kloß in meinem Hals loszuwerden, der mir das Sprechen deutlich erschwerte. "Hast du denn schon mögliche Ideen für ein Gitarrensolo?"
Johannes zuckte zusammen, als hätte ich ihn aus einer Art Trance gerissen, und begann, hastig durch ein paar Blätter auf dem Tisch zwischen uns zu wühlen: "Eh, ja, sogar drei..." Nachdenklich musterte er einen Zettel, zog die Augenbrauen zusammen und zerknüllte jenen: "Oder... auch nur zwei", murmelte er peinlich berührt und lachte verzweifelt auf.
"Willst du sie mir vorspielen? Bisher hat dir meine Meinung immer geholfen."
Johannes schnappte nach Luft und sah erschrocken auf, als ob er nie im Leben damit gerechnet hätte und nun schrecklich nervös war. Er zwang sich ein Lächeln auf und nickte: "Vielleicht gar keine so schlechte Idee", bemerkte er zögernd.

Er griff wieder seine Gitarre und legte sich einen der übriggebliebenen Zettel ganz nach oben auf den Stapel, studierte seine Notizen und Noten und konzentrierte sich kurz, ehe er nochmal zu mir sah und ich ihm ermutigend zunickte.
"Das sind aber nur erste Ideen, die dringend überarbei–" - "Johannes, ich hab' schon viel Scheiße von dir ertragen müssen, also jetzt hau schon 'raus", forderte ich ungeduldig und mit aufziehendem Stimmton. Er lachte auf, nickte resignierend und fuhr sich ein letztes Mal durch sein zauses Haar.
Johannes spielte zunächst ein paar beliebige Töne, ehe er die Saiten plötzlich viel stärker anschlug und seine Finger am Gitarrenhals zielstrebig entlang streiften, als hätte Jo jahrelang keine anderen Töne gespielt. Eine kleine Falte war an seiner Stirn zu erkennen, die immer deutlich zu sehen war, sobald er sich stark konzentrierte und Musik machte.

Er ging sosehr darin auf, dass es mich selbst mitriss und mein Bein zum Takt mitwippte. Sofort entwickelte ich Ideen, wie ich Johannes im Hintergrund begleiten könnte, weshalb ich hastig aufstand und mir das Cajón, das an der gegenüberliegenden Wand stand, herbeiholte und mich damit direkt neben die Couch, auf der Johannes saß, platzierte. Erst, als ich miteinstieg, realisierte er meinen kleinen Ortswechsel und lächelte breit, als er merkte, wie gut unser Spielen zusammenpasste - so wie früher, als wir ständig zu zweit spontan Musik gemacht hatten und irgendwas gespielt haben, ohne vorher etwas abgesprochen zu haben. Es hatte immer richtig gut zusammen geklungen und scheinbar hatten wir es nicht verlernt; zumindest konnte man spätestens jetzt nicht mehr abstreiten, dass wir wenigstens auf musikalischer Ebene immer noch perfekt harmonierten.

Wir beide hörten gar nicht mehr auf und spielten immer weiter, lachten, wenn einer von uns mal aus dem Takt kam, und fühlten richtig mit, wenn uns eine Stelle besonders gut gelang - so gut, dass es quasi direkt aufnahmebereit war. Wir waren uns körperlich und auf einer viel tieferen Ebene so nah, wie schon lange nicht mehr. Immer wieder trafen sich unsere Blicke, die sich auch für lange Sekunden nicht mehr voneinander lösen wollten, und ich entdeckte dieses strahlende Leuchten in dem warmen Braun - meiner Lieblingsfarbe - von Johannes' Augen. Ich merkte, wie sich die Anspannung meines Körpers langsam löste. Zum ersten Mal seit sieben Monaten spürte ich, wie ich atmen konnte, ohne mir einzubilden, ein schwerer Stein würde auf meiner Brust liegen. Zum ersten Mal seit sieben Monaten fühlte ich mich irgendwie lebendig. Ich fühlte mich gut.

"Wir haben's immer noch 'drauf!", grinste ich begeistert, als wir nach etlichen Minuten dann doch die Töne verklingen ließen. Jos und meine Blicke konnten sich immer noch nicht voneinander lösen, während sich Stolz und Glück in unseren Ausdrücken widerspiegelten.
"Das müssen wir unbedingt den Anderen vorspi–" Mein Enthusiasmus sprudelte förmlich nur so aus mir heraus, als Johannes mich plötzlich unterbrach. Seine Stimme war nicht mehr als ein gedankenverlorenes Hauchen, das mir das Grinsen im Gesicht gefrieren ließ:

"Ich würde dich gerne küssen, Jay."

Bis zum letzten MomentWo Geschichten leben. Entdecke jetzt