Kapitel 42

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An das meiste, was danach geschah, kann ich mich nicht mehr erinnern. Die Erinnerungen beginnen erst wieder beim Rückweg einzusetzen; wir sechs torkelten durch die Straßen, sangen 'Das kann uns keiner nehmen' immer und immer wieder auf Dauerschleife und philosophierten zwischenzeitlich über das Leben und die Liebe. Es war kein Platz für düstere Gedanken oder Pessimismus; wir wollten einfach nur lachen, Spaß haben und betrunken die Stadt unsicher machen.

Wir hatten schon Arne bei sich zuhause abgesetzt und erreichten schließlich Kris' Wohnung. Wie genau er das auch hinbekommen hatte, aber Niels hatte Kris tatsächlich dazu gebracht, nun auch ihn zu küssen. Niels streckte währenddessen seine geballte Faust triumphierend gen Himmel und sein anschließendes Siegergrinsen reichte vom einem bis zum anderen Ohr. Kurz darauf verließen mich meine Erinnerungen wieder.

Das, an das ich mich zu 100% erinnern konnte, waren die schrecklichen Kopfschmerzen und die bestialische Übelkeit am nächsten Tag. Glücklicherweise ging es den anderen ganz genauso, weshalb eine SMS reichte und die Probe war abgesagt. Wir alle kurierten unseren ordentlichen Kater im Bett aus. Weder Johannes, noch ich sprachen einen vernünftigen Satz miteinander; dafür waren wir einfach viel zu schwach. Wir sechs hatten es übertrieben - definitiv - und jetzt wurden wir bestraft; wir hatten es verdient.

"Hey, Jay, ich lebe wieder!", wurde ich am darauffolgenden Morgen enthusiastisch von Johannes begrüßt. "Du warst nie tot", murmelte ich in mein Kopfkissen. Auch wenn mein Kater sich verabschiedet hatte, war es mir dennoch viel zu früh für ein Gespräch. "Ich habe mich gestern aber alles andere als lebendig gefühlt." Ich spürte seine warmen Lippen, die sich in meinem Nacken auf meine Haut drückten und dort eine angenehme Gänsehaut verursachten: "Das zieht nicht." Johannes seufzte und rappelte sich auf: "Dann halt nicht", erwiderte er gespielt beleidigt und zog mir die Decke weg, doch auch davon ließ ich mich nicht beirren, sondern vergrub meinen Kopf noch tiefer ins Kissen. "Spielverderber", murmelte Johannes und trottete aus dem Schlafzimmer.

Ich hörte nur wenige Sekunden später die Kaffeemaschine arbeiten, blieb noch ein bisschen liegen und zwang mich dann doch dazu, aufzustehen und meinem Freund Gesellschaft zu leisten. "Wie wär's: duschen, dann frühstücken gehen und später Probe?", schlug dieser vor und stellte mir eine kleine Tasse Kaffee zum Wachwerden vor die Nase. "Klingt gut", schmunzelte ich, wurde direkt aber wieder ernst: "Wollen wir heute Abend dann vielleicht zu meinen Eltern?" Johannes schluckte, schwieg und zuckte mit den Schultern, begleitet von einem unsicheren Nicken.
Durch die ganze Geschichte mit Anna und dem Baby ist der Vorsatz, unseren Familien von unserer Beziehung zu erzählen, ziemlich weit in den Hintergrund gerückt. Ich war mir nicht einmal sicher, ob Johannes' Eltern von der Trennung von Anna wussten, doch jetzt waren erst einmal meine Eltern dran: "Okay", sagte ich also und zückte mein Handy. "Ich schreib' ihnen, dass ich zum Essen vorbeikomme und jemanden mitbringe." - "In Ordnung." Johannes lächelte unsicher und ich stand auf, um meine Arme um seine Mitte zu schlingen: "Sie kennen dich doch bereits und sie haben dich schon immer gemocht. Meine Eltern sind tolerant und werden sich für uns freuen", flüsterte ich und lehnte mich vor, küsste ihn und entdeckte daraufhin ein Lächeln auf seinen Lippen.

Beim Frühstück waren Johannes und ich beide darauf bedacht, nicht all zu auffällig rumzuturteln. Wir wollten es nicht darauf anlegen, dass man uns in der Öffentlichkeit knutschend als Pärchen entlarvt und sich die Klatschpresse das Maul darüber zerreißt. Natürlich haben wir uns schon mal auf der Straße geküsst oder wie zwei Tage zuvor in der Bar uns nicht gerade zurückgehalten, aber wir schauten uns vorher immer bewusst um oder gingen sicher, dass man uns nicht erkannte. Irgendwann würde es schon Zeit sein, sich auch in der Öffentlichkeit zu outen, doch wir wollten es selbst in der Hand haben, wie, wo und wann die Fans von uns erfahren würden. Eins stand jedoch fest; es sollte nicht durch ein zufällig entstandenes Kussbild von uns in der Bild-Zeitung, die uns eh nicht ausstehen konnte, passieren.

"Kann jemand von euch meine Gedächtnislücken füllen?", fragte Niels, als wir uns nachmittags wieder Proberaum trafen. "Alles, ab unserem Fußmarsch zur dritten Kneipe, ist weg." - "Wie, du erinnerst dich nicht an die Knutscherei mit Kris?", fragte ich lachend und die beiden Gitarristen schauten zunächst mich und anschließend sich gegenseitig entgeistert an. "Du warst jedenfalls sehr stolz, dass du Kris doch noch um den Finger gewickelt bekommen hast." Schmunzelnd boxte Johannes Niels gegen den Oberarm. Chris und Arne sparten sich ihre Kommentare und verkniffen sich ein Lachen. Vermutlich wollten sie gar nicht wissen, was sie eventuell getan haben. Vielleicht haben sie ja auch mit irgendjemandem rumgeknutscht oder sich auf irgendeinem Wege blamiert.
"Ok, lasst uns einfach bitte alles an vorgestern vergessen. Alles von dem Moment an, wo Arne, Niels, Chris und ich verstörende Geräusche aus meinem Proberaum hören mussten. Bitte!", flehte Kris und faltete dabei seine Hände. Einstimmig kamen wir seiner Bitte nach und fingen dann endlich an, zu proben. Die Tour würde in zwei Wochen starten und wir hatten noch einiges vorzubereiten; von nun an, musste unsere Konzentration wieder voll und ganz auf die Band gerichtet sein. Wir durften uns keine Ablenkung, durch die Fehler entstehen könnten, erlauben.

"Okay, das sollte reichen!", entschloss Johannes nach einigen Stunden zufrieden und legte dabei seine Gitarre ab. Wir nickten und räumten wieder alles an Ort und Stelle, schlossen ab und gingen nach draußen, wo uns der Regen direkt ins Gesicht peitschte: "Na, super", murmelte Chris. "Ich bin zu Fuß." - "Ich kann dich mitnehmen", bot Niels an und zückte seinen Autoschlüssel. "Sehen wir uns übermorgen?", fragte er noch rhetorisch, bevor er mit dem Bassisten verschwand.

Auch Johannes und ich setzten uns ins Auto. Wir erreichten nach circa dreißig Minuten das Haus, in dem ich groß geworden bin, und blieben zunächst noch im Auto sitzen, auf das der Regen laut prasselte. "Schon ironisch, oder? Weihnachten, als ich das letzte mal hier war, wollte ich mich vor dir verstecken und dich vergessen. Und jetzt komme ich hier her, um meinen Eltern zu erzählen, dass ich schwul und mit dir zusammen bin. Was hat das zu bedeuten?" - "Das bedeutet bloß, dass du deine Eltern definitiv öfters besuchen solltest", schmunzelte Johannes mich von der Seite an und ich musste kurz auflachen. "Bereit?", fragte er mich nun wieder ernst. Ich zögerte, griff nach seiner Hand und verschränkte unsere Finger miteinander: "Ja."

Bis zum letzten MomentWo Geschichten leben. Entdecke jetzt