Kapitel 46

299 22 10
                                    

Die unendlich dunkle Schwärze vor meinen Augen war unerträglich und doch konnte ich einfach nichts unternehmen, um aufzuwachen. Es fühlte sich wie Stunden an, die es brauchte, bis ich endlich wieder mein Bewusstsein erlangte und mich auf unserer Couch wiederfand - ein kühler Waschlappen auf meiner Stirn, meine nasse Jacke und Hose auf der Heizung und ich lediglich in dünnem Pullover und Boxershorts in eine dicke Decke eingewickelt. Als ich auf die Uhr sah, konnte ich nur ungefähr erahnen, wie lange ich weggetreten sein muss - vielleicht eine Viertelstunde?

Vorsichtig setzte ich mich auf und massierte meine Schläfen, in der Hoffnung, der unerträgliche Druck auf meinen Kopf würde sich damit minimieren. Doch plötzlich schossen mir die Erinnerungen an Lukas, seine Worte und seine Taten zurück ins Gedächtnis. Mir wurde schon wieder übel und ich war unendlich dankbar für den Eimer, der neben dem Sofa bereitstand. Als könnte ich auf diesem Wege die Gedanken daran aus meinem Körper spülen und somit eventuell sogar das Geschehene ungeschehen machen, übergab ich mich ein weiteres Mal, fühlte mich dabei hundeelend und schwach.
Tränen brannten in meinen Augenwinkeln, als ich ins Gäste-WC nebenan schlurfte, um meinen Mund auszuspülen. Bei einem Blick in den Spiegel erkannte ich mich fast selbst nicht. Das erste, was mir ins Auge fiel, war die Ungläubigkeit in meinem Ausdruck.
Ich wollte einfach nicht wahrhaben, dass Lukas scheinbar so einen Hass auf Homosexuelle hat, dass er mich - seinen eigenen Bruder - verstößt und Johannes so zusammenschlägt.

Johannes.

Schlagartig verschwanden die Gedanken an Lukas und machten stattdessen nun Platz für Sorge, um meinen Freund, den ich zuletzt auf unserem Hof habe liegen sehen, bevor ich noch irgendwie mitbekommen hatte, wie mein Vater ihm ins Haus half. Panik trat in mir auf; was ist, wenn Lukas Johannes so sehr verletzt hatte, dass dieser ins Krankenhaus musste? Immerhin boxt mein Bruder seit einer Ewigkeit im Verein - von den Schlägereien, die er vorher hatte, mal ganz abgesehen - und einer seiner gezielten Schläge konnte garantiert Knochen brechen oder schlimmeres.

"Hier bist du." Die vertraute Stimme meines Vaters riss mich aus meinen panischen Gedanken, die mich noch daran gehindert hatten, das Haus nach Johannes abzusuchen. "Wo ist er?", fragte ich einfach; Papa wusste, dass ich gerade einfach nicht über all das Chaos reden wollte und er hatte Verständnis für mich, dass ich jetzt erst einmal sicher gehen musste, dass es Johannes gut geht. "Oben im Badezimmer." Ich drängte mich an ihm vorbei und stürmte die Treppe hoch, wobei sich bei jeder Stufe mein Magen, der sich unangenehm flau anfühlte, bemerkbar machte. Ich stieß die Tür zum Badezimmer auf und sah Johannes auf dem Badewannenrand sitzen, während meine Mutter damit beschäftigt war, sein Gesicht zu säubern.

"Oh Gott", entfuhr es mir entgeistert, als ich ihn so sah. Er hatte immer noch schwaches Nasenbluten, weshalb meine Mutter sich erstmal um das getrocknete Blut auf Johannes' Wange kümmerte. Sein Gesicht rund um sein linkes Auge war angeschwollen und zu sagen, er hätte ein Veilchen gehabt, wäre eine gewaltige Untertreibung gewesen; die lilafarbene Fläche rund um das mir so vertraute Braun schien riesig.
"Du solltest mich eigentlich erst sehen, wenn zumindest das ganze Blut weg ist", murmelte Johannes und genau in dem Moment, tauchte Papa auf: "Hab' was für dein Auge zum Kühlen gefunden." Er drückte meinem Freund eine Packung Tiefkühlerbsen in die Hand und sah mich schließlich eindringlich an: "Ich bereite dein Zimmer mal für euch beide vor und leg euch T-Shirts von mir zum Schlafen hin...Keiner von euch sollte jetzt noch Auto fahren." Ich bedankte mich mit einem zaghaften Lächeln und da war er auch schon wieder verschwunden.

"Kann ich dir helfen?", fragte ich Mama, die mich nun mit Tränen in den Augen erstmals anschaute. Sie zuckte mit den Schultern: "Ein neues Tuch vielleicht?" Ich griff in einen der Schränke, befeuchtete den Lappen und reichte ihn ihr. Mit den Worten "Das Nasenbluten hat aufgehört" tupfte sie nun vorsichtig das Blut unter Johannes' Nase ab. Je näher sie dieser kam, desto schmerzverzerrter wirkte Johannes' Gesicht und desto mehr stöhnte er, um sein Fluchen zu unterdrücken. "Es tut mir leid", wiederholte meine Mutter immer wieder und ich wusste nicht, was sie meinte. Entschuldigte sie sich für ihren homophoben, brutalen Sohn oder dafür, dass Johannes solche Schmerzen hatte? Auch wenn das eine mit dem anderen zusammenhing - oder vielleicht gerade deswegen - , konnte ich nicht sagen, was genau sie meinte.

"Fertig!" Mama legte das Tuch beiseite und stemmte ihre Fäuste in die Hüften, während sie noch einmal kritisch das Gesicht ihres Gegenübers musterte. "Danke, Corinna", lächelte Johannes - die Tüte Erbsen auf sein Auge drückend - ehrlich und erhielt ein sanftes Nicken als Antwort.
"Wir sollten alle schlafen...Morgen ist genug Zeit, um sich über alles den Kopf zu zerbrechen", entschloss meine Mutter felsenfest und zog mich liebevoll in ihre Arme. Es war keine normale Umarmung; sie sollte mir zeigen, dass sie zu mir steht und ich nicht fürchten brauchte, sie würde mir auch den Rücken zukehren. "Ich liebe dich, mein Schatz", flüsterte sie und drückte mir einen Kuss auf die Wange. "Ich liebe dich auch", hauchte ich, löste mich von ihr und mit Tränen in den Augen ließ sie Johannes und mich alleine im Badezimmer zurück.

Stöhnend stand Johannes vom Rand der Badewanne auf, legte die Erbsen beiseite und kam langsam auf mich zu. Anhand seines Ganges erkannte ich, dass er den Hieb in die Magengrube immer noch spürte. "Auf einer Skala von eins bis zehn; wie beschissen geht es dir?" Sein Blick war ernst und durchbohrte mich schon fast. Schulterzuckend wich ich diesem aus, doch Johannes' Finger an meinem Kinn, die mein Kopf wieder in seine Richtung drehten, machten das schier unmöglich: "Sei ehrlich", bat er mich mit ruhiger einfühlsamer Stimme. "Neun Komma Fünf?", wimmerte ich und spürte im nächsten Moment, zwei Arme um mich, die mir unglaublich Halt gaben.

"Es tut mir so leid", flüsterte er, als er die Umarmung verließ und seine Hand sanft an meine Wange legte. Er küsste mich vorsichtig und doch bestimmt. Auch wenn er dabei garantiert Schmerzen verspürte und es in dieser Situation für manche vielleicht nicht angebracht schien, so waren unsere Küsse eine eventuell skurrile und gleichzeitig so eine effektive Art, einander zu beruhigen. Und tatsächlich half es mir ein bisschen. Vielleicht sank meine Bewertung von Neun Komma Fünf auf eine solide Sieben. Zumindest für einen kurzen Moment.

Bis zum letzten MomentWo Geschichten leben. Entdecke jetzt