Kapitel 54

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Es war der nächste Vormittag und Johannes und ich erreichten ausnahmsweise mal pünktlich den Treffpunkt, von wo aus unser Tourbus losfahren würde. Sascha war die ganze Zeit am telefonieren und da abgesehen von ein paar Leuten aus der Crew noch niemand anderes da war, verstauten Jo und ich unsere Sachen schon einmal in Ruhe in unserem Bus. "Bist du schon nervös?", fragte ich vorsichtig und mein Freund drehte sich mit müdem Gesichtsausdruck zu mir um. In den Nächten vor Tourbeginn fand er nie sonderlich viel Schlaf und das war ihm deutlich anzusehen. Umso mehr hoffte ich darauf, dass wir nach dem Auftakt heute Abend in Köln alle erschöpft in unsere Kojen fallen würden, um wenigstens am zweiten Tag etwas fitter zu sein. Doch ich wusste, dass wir eh erst einmal auf die Tour anstoßen würden und wir vor zwei Uhr kein Auge zubekommen werden.
"Ja, ein bisschen", gestand Johannes und lehnte sich an die Wand. "Und du?" - "Mehr, als ein bisschen." Es ist eine Weile her, dass ich vor großem Publikum gespielt hatte. Johannes und Kris waren ja während unserer Bandpause mit ihren Soloalben beschäftigt und unterwegs, doch Niels und ich haben seit Ewigkeiten keine richtige Bühne mehr betreten, um vor Leuten zu spielen, die uns sehen wollten. Die für uns bezahlt und teilweise eine lange Reise auf sich genommen hatten. Zudem war das allererste Konzert einer Tournee eh immer nervenaufreibend und dementsprechend große Angst hatte ich vor dem heutigen Abend.
Johannes lächelte mich nur aufmunternd an und strich mir über meine Wange. "Das verfliegt. Sieh einfach mich an. Okay?" Ich nickte schwach und spürte kurz darauf seine warme Lippen auf meinen. Es war ein flüchtiger Kuss, doch er konnte mir ein wenig von meiner Angst nehmen.

Während Johannes sich wieder seiner Tasche widmete, ließ ich meinen Blick durch eines der abgedunkelten Fenster nach draußen schweifen, wo im selben Moment Kris und Steffi eintrudelten und Hand in Hand auf den Bus zusteuerten. Erst beim zweiten Mal hinschauen erkannte ich, dass ihnen eine weitere Person folgte. "Anna", nuschelte ich verblüfft und spürte sofort, wie sich sämtliche Muskeln in mir anspannten. Verwirrt sah Johannes mich an und folgte schließlich meinem Blick. Er klopfte mir Mut machend auf die Schulter und drückte sich an mir vorbei, um aus dem Bus zu steigen. Ich schluckte den Kloß in meinem Hals hinunter, während ich ihm folgen wollte und mich bemühte, einen Fuß vor den nächsten zu setzen, woran ich kläglich scheiterte, als ich sah, wie Johannes und Anna sich mit einer festen Umarmung begrüßten. Die beiden hatten sich wegen des Babys oft getroffen, konnten den Verlust gemeinsam verarbeiten und haben in der Zeit wieder zueinander gefunden. Es freute mich für die beiden; nach ihrer langen Beziehungen sollten sie sich nicht ignorieren müssen. Dass sie sich nach all dem, was vorgefallen ist, mit so einer liebevollen und festen Umarmung begrüßen konnten, war ein sehr gutes Zeichen, dass Anna ebenfalls über alles hinwegzukommen scheint. Doch sie und ich - wir haben uns nicht mehr gesehen, seitdem Johannes Anna auf das Kind angesprochen hatte und sie mich darum gebeten hatte, die beiden alleine zu lassen. Wir hatten nie eine Chance uns auszusprechen. Ich wusste ja nicht einmal, ob sie nicht vielleicht sauer auf mich war.

"Jakob?" Ich wurde aus meinen Gedanken gerissen, als Kris plötzlich neben mir auftauchte. "Alles okay?" Ich nickte vielleicht etwas zu hastig und machte Kris und Arne, der ebenfalls im engen Gang des Busses auftauchte, Platz, damit sie ihre Taschen an den dafür vorgesehenen Platz abstellen konnten. "Wir fahren gleich los. Ich hab' mich schon von Steffi verabschiedet, Niels und Nicci und Chris und Antonia sind gerade noch dabei." Scheinbar war ich so sehr in meinen Gedanken vertieft gewesen, dass ich das Eintreffen der anderen nicht einmal mitbekommen hatte. "Du Glücklicher hast deinen Angebeteten zwar mit auf Tour, aber falls du dich noch von jemand anderem verabschieden möchtest, hast du noch fünf Minuten Zeit." Kris zog erwartungsvoll seine Augenbrauen hoch und ich verstand sofort, worauf er anspielte. Er schob mich Richtung Ausgang und plötzlich wehrten meine Füße sich nicht mehr, aus dem Bus zu steigen. Auf der kleinen Treppe kam mir auch schon Niels entgegen, der ziemlich mitgenommen aussah und ohne jedes weitere Wort an mir vorbeistapfte. Es war wegen der relativ kurzen räumlichen Trennung von Nicci - ganz klar. Auch Chris und Antonia schienen sich voneinander verabschiedet zu haben, denn der kleine Bassist kam alleine auf den Bus zugetrottet, als ich diesen verlassen hatte und zielstrebig auf Anna und Johannes zusteuerte. Kurz bevor ich die beiden erreichte, machte sich dann doch wieder die Unsicherheit in mir breit, doch an Umkehren war nicht mehr zu denken. Sie hatten mich schon bemerkt, Jo umarmte seine Ex-Freundin noch einmal und sie flüsterte ihm ein "Viel Spaß" zu, was ich an ihren Lippen ablesen konnte. Im Vorbeigehen lächelte Johannes mich noch einmal aufmunternd an und drückte kurz meine Hand, die seine gestreift hatte.
"Hey", begrüßte mich Anna mit einem warmen Lächeln und doch einer leicht zitternden Stimme. Meine einzige Antwort war ein nervöses Zucken meiner Mundwinkel. Ich hätte mir vielleicht vorher überlegen sollen, was ich sagen will. Doch in meinem Kopf herrschte bloß eine riesige Leere.
"Wie geht es dir?", fragte ich vorsichtig, da mir nichts anderes einfiel. "Ganz gut." Sie faltete ihre Hände vor ihrem Körper und biss sich auf ihre Unterlippe. Eine unangenehme Anspannung umgab uns; den ehemals besten Freunden, bis ich ihr ihren Freund 'ausgespannt' hatte. Plötzlich spürte ich, wie Anna ihre Arme um meinen Hals schlang und sie ihren Kopf an meine Brust lehnte: "Ich hab' dich so vermisst." Es war nicht mehr, als ein Flüstern, doch ich konnte sie klar und deutlich verstehen. Etwas perplex von ihrem Handeln, erwiderte ich ihre Umarmung und drückte sie abrupt noch enger an mich, schloss meine Augen und genoss diesen Moment, auf den ich so lange gewartet hatte. "Ich dich auch, Anna", murmelte ich irgendwann zurück und drückte meine Lippen auf ihre Haare, wodurch sich ihre Arme nur fester um mich schlangen.

"Sinn!", unterbrach Saschas laute Stimme hinter uns die Situation. "Tut mir leid, aber wir müssen los." Seufzend lösten Anna und ich unsere Umarmung und ich strich ihr mit meinem Daumen eine Träne von ihrer Wange. "Wir sollten reden, wenn ihr wieder zurück seid." Ich nickte sichtlich erleichtert über ihren Vorschlag und zog sie noch einmal für eine kurze Umarmung an mich. "Genieß' die Tour. Und pass auf dich auf." - "Mach' ich. Ich melde mich bei dir." Sie lächelte breit und schweren Herzens drehte ich mich um und steuerte auf den Bus zu, in dessen Tür Sascha ungeduldig wartete. Mir war klar, dass er Verständnis für die Situation hatte - immerhin wusste er mittlerweile auch von allem Bescheid -, aber es gab nunmal einen strengen Zeitplan, an den wir uns zu halten hatten. Mit jedem weiteren Schritt merkte ich, wie unglaublich befreiend dieses kurze 'Gespräch' mit Anna war. Wie gut es tat, dass sie mich scheinbar nicht hasste. Sascha wuschelte mir durch die Haare, als ich einstieg und die Tür sich endlich schließen konnte. "Ich bin stolz auf dich, Junge." Er klopfte mir nochmal auf meinen Rücken und ich nickte ihm dankbar zu.

Ich ging zu den anderen, die sich auf die beiden Vierer im vorderen Teil des Busses verteilt hatten. Die Stimmung war bedrückt und dementsprechend war es auch still - auch wenn es nur 16 Tage waren, die wir unterwegs sein würden, so war es doch nie leicht, sich von geliebten Personen für einen gewissen Zeitraum zu verabschieden. Kris lächelte mich sanft an, als er mich sah, und lehnte seinen Kopf dann wieder gegen die Scheibe und starrte nach draußen. Ich ließ mich neben Johannes auf den Sitz fallen und zog die Beine an, woraufhin Johannes direkt seinen Arm um mich legte und ich mich an seine Brust lehnen konnte. "Alles okay?"- "Alles okay", bestätigte ich und spürte seine Lippen auf meiner Kopfhaut.

Bis zum letzten MomentWo Geschichten leben. Entdecke jetzt