Kapitel 98

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~ April 2019 ~

Die ersten richtigen Sonnenstrahlen in diesem Jahr wärmten meinen Rücken und projektierten meinen Schatten vor mir auf den Weg. Mein Atem ging flach und dennoch kontrolliert, ich spürte den harten Boden unter meinen Laufschuhen und wie die laue Luft an mir vorbeizog. Howl von The Gaslight Anthem dröhnte durch Beats-Kopfhörer in meine Ohren. Es war das erste mal seit langem, dass ich so intensiv und ausdauernd joggen war, und ich genoss es mit jedem weiteren schmerzenden Meter, den ich zurücklegte. Die Luft in meinen Lungen brannte, ich hatte Blasen an den Füßen und spürte jeden einzelnen meiner Muskeln - doch ich bekam den Kopf frei.

Ich vergaß die Nervosität vor dem immer näher rückenden Release unseres neuen Albums.
Ich vergaß die damit verbundenen Erwartungen.
Ich vergaß den ganzen Trubel, der um Johannes' und meine gerade erst öffentlich gemachte Trennung gemacht wurde.
Ich vergaß die Tatsache, dass mein Bruder auswanderte, mir nichts davon erzählt hatte und ich es von meinem Cousin erfahren musste.
Ich vergaß sogar meinen Kater, mit dem ich wenige Stunden zuvor aufgewacht war.

Und tatsächlich vergaß ich fast Rick, mir dem ich um 12:30 Uhr verabredet war.

"Oh Gott, es tut mir so leid", keuchte ich, als ich das Restaurant mit ungefähr zehn Minuten Verspätung erreichte. "Ich war joggen und hab' total die Zeit vergessen und dann musste ich noch duschen und dann ist die U-Ba–" - "Hol doch erstmal Luft", lachte Rick, stand von seinem Platz auf und zog mich mit seiner Hand in meinem Nacken sanft näher an sich, um mich mit einem Kuss zu begrüßen: "Deine Unpünktlichkeit bin ich ja bereits gewohnt." - "Das ist ja das schlimme", murmelte ich beschämt, drückte meine Lippen nochmal kurz auf seine und ließ mich dann ihm gegenüber total erschöpft auf einen Stuhl fallen.
"Ich hab' dir schon deinen Lieblingswein bestellt." Ich blickte von der Speise- und Getränkekarte auf, die bei meiner Ankunft schon auf meinem Platz gelegen hatte, und entdeckte direkt das sanfte Lächeln von Rick: "Und ein Wasser dazu." - "Da kennt mich wohl einer", bemerkte ich schmunzelnd und schob noch ein "Dankeschön" hinten an, ehe ich mich für ein Essen entschied und die Bestellung kurz darauf beim Kellner aufgab, der unsere Getränke brachte.

Während wie auf unser Essen warteten, erzählte ich Rick von dem Stress und den zahlreichen Interviwes, die Revolverheld in den kommenden neun Tagen noch als Promo für das Album halten müsste. Er versuchte vergebens, meine nicht zu übersehende Nervosität zu senken, bis ich plötzlich verzweifelt in meinen Stuhl zurücksank und seufzte: "Das Album muss gut ankommen. Unsere Fans warten jetzt schon seit fünfeinhalb Jahren auf neue Lieder; sie dürfen echt nicht enttäuscht werden." - "Du machst dich unnötig verrückt. Das, was ich bisher hören durfte, klang wirklich richtig gut. Und das sage ich nicht nur, weil du mein Freund bist", schmunzelte Rick und griff über den Tisch hinweg nach meiner Hand, um beruhigend über ihren Rücken zu streicheln. Ich sah zu unseren Fingern, die er in diesem Moment miteinander verschränkte, und dann in Ricks Gesicht, in dem sich sein sanftes Lächeln in seinen hellen Augen widerspiegelte, und zog selbst meine Mundwinkel ein Stück weit hoch. Es fühlte sich immer noch so... fraglich an. Mit ihm.

Seit Februar waren wir jetzt ein Paar und ich wusste immer noch nicht, ob ich das richtige tat. In den letzten Monaten hatten Rick und ich viel Zeit miteinander verbracht und er wurde immer mehr ein wichtiger und fester Bestandteil in meinem Leben. Ich schätzte ihn, seine zurückhaltende Art, sein offenes Ohr für mich, seine liebevolle Seite und wie er mich nach einem stressigen Tag auffing. Die meiste Zeit, in der wir uns sahen, war er einfach nur ein sehr guter Freund für mich - mittlerweile einer meiner besten. Die restliche Zeit war er mein Liebhaber.
Doch irgendwann reichte ihm das nicht mehr.
Mit einem Selbstbewusstsein, das man so ganz und gar nicht von Rick kannte, kreuzte er vor circa neun Wochen abends bei mir auf und sagte mir in lautem und wütendem Stimmton, der von einem leichten Lallen unterlegt war, dass er nicht länger mit sich spielen lassen würde. Er wollte mehr sein, als mein gelegentlicher Spaß und Zeitvertreib, und seine Gefühle für mich wuchsen ihm immer mehr über den Kopf - ganz egal, wie kalt ich mich ihm gegenüber manchmal verhalten hatte.
Rick hatte mich vor die Wahl gestellt; entweder ich ließe mich auf eine Beziehung mit ihm ein oder er würde nichts mehr von mir hören wollen.
Natürlich hatte ich früher oder später mit so etwas gerechnet und ich konnte ihn da auch voll und ganz verstehen, doch mit meiner Reaktion hatte ich mich selbst überrascht: ich hatte ihn geküsst. Nicht, weil ich ihn liebte und unbedingt mit ihm zusammen sein wollte, sondern... Ich wusste es selbst nicht. Ich wollte ihn wohl nicht verlieren; nicht als Affäre und noch weniger als einen Freund. Auch wenn das, was ich für ihn empfand, im Normalfall nicht für eine Beziehung gereicht hätte, gab ich ihm - gegen meinen Verstand, gegen jegliche Vernunft -, was er wollte.
Rick war glücklich; ihm ging es sichtlich besser als zu der Zeit, in der wir uns fast nur getroffen haben, um miteinander zu schlafen. Er wirkte jetzt viel zufriedener und erleichtert - und das verhalf mir zu einem besseren Gewissen. Ich mochte ihn, schätzte ihn und vielleicht... Vielleicht brauchten wir uns gegenseitig, damit es uns gut ging. Oder zumindest besser.

"Wo bist du jetzt schon wieder mit deinen Gedanken?", riss Rick mich zurück ins Hier und Jetzt, in dem wir Händchen haltend in einem feinen Restaurant saßen und einander tief in die Augen sahen.
"Bei dir", antwortete ich bruchteilig ehrlich, was sein Gesichtsausdruck noch verliebter wirken ließ.

Bis zum letzten MomentWo Geschichten leben. Entdecke jetzt