Kapitel 67

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Es gab da noch eine Sache, die zu erledigen war, bevor ich wirklich glücklich und irgendwie sorgenfrei mit Johannes zusammen sein konnte. Ich musste auch noch das letzte bisschen schlechte Gewissen aus meinem Kopf evakuieren und als ich Johannes von meinem Plan erzählt hatte, legte sich ein sanftes Lächeln auf sein Gesicht. "Ich bin stolz auf dich", hatte er gesagt und ich wusste, dass er es ernst meinte und wie viel auch ihm dieser Schritt bedeuten würde.

Auch das war einer der Gründe, warum ich mich direkt am nächsten Tag auf den Weg machte. Und nun stand ich dort vor dieser Tür, mein Finger lag bereits seit einer gefühlten Ewigkeit auf der Klingel, an der noch kein Namensschild befestigt war, und wartete auf den Befehl meines Gehirnes, diese zu drücken. Doch es dauerte, bis ich sie schließlich nach einem tiefen Atemzug betätigte und ich kurz darauf von Innen immer lauter werdende Schritte hörte.
"Jakob..." In ihrem Gesicht lag Überraschung, die sich nach wenigen Sekunden mit Freude vermischte - allein dadurch fielen mir sämtliche Steine vom Herzen. "Hey, Anna", lächelte ich verlegen und im gleichen Moment zog sie mich an sich und schlang ihre Arme um meine Mitte, während sie ihr Gesicht an meiner Brust verbarg. Erleichtert über diese Reaktion legte auch ich meine Arme um ihren schlanken Körper und presste sie noch näher an mich - es fühlte sich so gut an. Zwar wusste ich ja bereits, dass sie mir nicht irgendwie böse war, aber ich brauchte einfach nochmal die Gewissheit, dass wirklich alles in Ordnung war und wir wieder miteinander umgehen konnten, wie noch vor wenigen Monaten; vielleicht bin ich deswegen vorher so nervös gewesen, als ich vor ihrer Tür stand und ungefähr siebzehn mal mit mir selbst gerungen habe, nicht einfach wieder zu gehen.

"Komm doch 'rein", bat Anna mich nach einer ewig anhaltenden Umarmung, die schon so viel zum Ausdruck gebracht hatte. Sie deutete auf eine offen stehende Tür am Ende des Flures, hinter der sich das Wohnzimmer befand. Kurz nach unserem Tourneebeginn ist Anna in ihre neue Wohnung gezogen - die alte von ihr und Johannes war nunmal viel zu groß für eine Person allein und wahrscheinlich brauchte sie diesen Umzug auch einfach für einen Schlussstrich. Jo hat mir dann heute früh noch schnell ihre Adresse gegeben, mich geküsst und mir nochmal Mut zugeredet.

"Entschuldige das Chaos, ich bin noch ständig am umräumen", sagte Anna mit einem Blick auf ein paar vereinzelte Kartons, die sich an der Wand stapelten. "Wasser?", bot sie jedoch im nächsten Moment an, ich nickte und sie ließ mich alleine im Raum. Ich nutzte den kurzen Moment und sah mich ein bisschen um; das Wohnzimmer war schon bereits liebevoll eingerichtet, doch so wie ich Anna kannte, würden in den Kisten noch etliche Bilderrahmen und Dekoartikel auf ihren Einsatz warten.

Als ich wieder Schritte auf dem Flur hörte, setzte ich mich auf die bequeme Couch und nahm dankend das Wasser an. Anna setzte sich ebenfalls und umfasste ihr eigenes Glas. "Echt 'ne schöne Wohnung", war mein Versuch, um ein Gespräch aufzubauen, Anna schaute auf und lächelte verträumt: "Ja, wenn ich erstmal fertig bin, wird sie perfekt sein." - "Das glaub' ich dir." Und da trat schon wieder Stille ein. Ich blickte unsicher auf meine Schuhe, stellte dabei fest, dass ich sie dringend mal wieder putzen sollte und schüttelte sofort kaum merkbar mit meinem Kopf; es gab jetzt wichtigeres.

"Wie geht es dir denn?" Ich war bemüht, nicht allzu besorgt zu klingen, wobei ich allerdings kläglich gescheitert bin. Anna überspielte es jedoch und strahlte erneut - es war wie Balsam für meine Seele. "Ganz gut. Ehrlich; es wird besser." Ich nickte einmal kurz, wobei ich ungewollt erleichtert ausatmete: "Das freut mich wirklich, zu hören, Anna." Ihre Hand griff zögerlich nach meiner und mit einem breiten Lächeln schaute ich auf unsere verschränkten Finger, die für mich so viel symbolisierten, dass ich am liebsten ein Foto davon gemacht und es in Poster-Größe ausgedruckt hätte.

"Habt ihr eigentlich schon viele Reaktionen auf euer Outing bekommen?" Es lag keinerlei Vorwurf in der Stimme. Keine Anspielung darauf, dass Jo und ich ihr Herz in tausend Teile gebrochen haben. Nur reine Neugier und vielleicht auch etwas Sorge - immerhin wusste sie ja auch, dass es noch genug Menschen gab, die große Probleme mit Homosexualität haben. "Naja, ein paar Abonnenten weniger und einige dämliche Kommentare auf Facebook, Instagram und scheinbar auch Twitter. Aber mindestens doppelt so viele Glückwünsche und liebe Sätze. Und auf der Straße sind wir noch niemandem begegnet, der sich was hat anmerken lassen, aber wir waren bisher auch nur zu irgendwelchen Terminen unterwegs oder einmal nachts; da war eh nichts mehr draußen los..." Seufzend fuhr ich mir durch die Haare und kaute auf meiner Unterlippe herum, während ich weiter auf unsere Hände starrte: "Wir warten mal, was noch so kommt. Noch ist es zu früh, um ein Fazit zu ziehen... Kriegst du denn viel ab?" Ein Schulterzucken, welches von einem Nicken begleitet wurde, war vorerst die einzige Antwort, bis Anna ihre Stimme wiederfand: "Sämtliche Klatschblätter wollen eine Stellungnahme von mir. Sie lassen mich einfach nicht in Ruhe, obwohl ich klar und deutlich gesagt habe, dass ich nicht darüber reden werde und ihr schon alles wichtige erzählt habt." Ich verdrehte lediglich genervt die Augen, woraufhin Anna kurz auflachen musste. Es war seltsam - aber irgendwie positiv seltsam; wir saßen hier und redeten hier locker über Johannes' und mein Outing und es fühlte sich nicht so an, als ob Anna die Frau war, der ich den Freund ausgespannt hatte. Es war tatsächlich alles in Ordnung. Auf eine verschrobene Art und Weise war es sogar wie früher. Naja, nicht so ganz, aber doch irgendwie.
Spätestens, als Anna einfach 'drauf los erzählte; von ihrem Laden, eine kleine Nebenrolle in einem Film, von ihrem letzten Mädelsabend. Sie quasselte ohne Punkt und Komma, sodass ich einfach nur dämlich vor mich her grinste, weil das einfach genau die Anna war, die ich kannte. Ich hatte nach ihrer Trennung von Johannes befürchtet, dass sie vielleicht nie wieder so sein würde - zumindest nicht in meiner Gegenwart. Und jetzt lachten wir so viel zusammen, dass sich sämtliche negativen Gefühle, die noch irgendwo in meinem Körper nisteten, wie weggeblasen waren. Jetzt würde alles gut werden. Ich spürte es.

"Hey, würdest du mir vielleicht helfen, Nägel für ein paar Bilderrahmen in die Wand zu schlagen?", fragte Anna schließlich, nachdem wir uns fast drei Stunden unterhalten haben, wobei sie den deutlich höheren Redeanteil hatte. Ich willigte sofort ein und hielt kurz darauf einen Hammer, eine Wasserwaage und Nägel in den Händen. Anna markierte die Stellen, wo sie die Rahmen hängen haben wollte und nachdem die Nägel in der Wand über dem Sofa waren, hievte sie eine der Umzugskisten auf die Couch. Wir machten uns gemeinsam daran, die Bilder aufzuhängen, tauschten ständig welche miteinander und diskutierten, was besser aussehen würde, bis Anna zufrieden ihre Hände in die Hüfte stemmte: "Du hast nicht nur ein gutes Auge für Fotografie, sondern kannst die Werke auch noch gut anordnen", schmunzelte sie. Ich deutete auf eine freie Stelle: "Da sind aber noch zwei Nägel; ein Bild fehlt wohl." Grinsend griff Anna noch einmal in den Karton und holte einen weiteren Bilderrahmen heraus, den sie mir reichte: "Das darfst du aufhängen." Ich betrachtete das Bild und ein warmes Gefühl breitete sich wie eine große Welle in mir aus. Ich konnte mir ein breites Lächeln nicht verkneifen; das Foto zeigte Anna und mich ziemlich betrunken, lachend und wild tanzend auf der Tanzfläche auf Johannes' 30. Geburtstag. Es war so ungestellt und echt und zählte schon lange zu meinen Lieblingsbildern. Dass Anna es in ihrem Wohnzimmer hängen haben wollte, machte mich unfassbar glücklich.
Während ich noch immer etwas überwältig und stolz auf das Bild in meinen Händen starrte, schlang Anna ihre Arme um mich: "Ich hab' dich doch lieb, Jakob. Immer."

Bis zum letzten MomentWo Geschichten leben. Entdecke jetzt