Kapitel 75

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Seine Augen waren zugekniffen, als ob er hoffte, meine Worte würden so nicht zu ihm durchdringen - als könnte er sich vor der Wahrheit verstecken, die ich ihm gerade zischend ins Gesicht sagte. Doch das konnte er nicht, da ihn die Wahrheit schon längst eingeholt hatte; spätestens, als er mir fremdgegangen war und das Idealbild von dem neuen, veränderten Johannes in tausend Teile zersplittert ist. In ihm schlummerte nunmal doch immer noch irgendwo der Mittzwanziger, der sich auf Dauer nicht mit bloß einem Sexpartner zufrieden gab. Ich wusste selbst nicht so genau, ob meine Wut und diese Enttäuschung in mir drinnen die ganze Situation nicht einfach nur noch mehr dramatisierten. Vielleicht schob ich alles aber auch einfach nur auf den alten Johannes, weil es mir erträglicher schien, als mir einzugestehen, dass ich Schuld war - wäre ich nach dem Streit nicht einfach abgehauen, würde alles anders aussehen.

Johannes schlug zaghaft seine Lider auf und blickte direkt in das Himmelsblau meiner Augen, welches ihn wahrscheinlich noch nie so kühl angesehen hatte und jetzt vermutlich eher dem Himmel an einem verregnetem Herbsttag, anstatt dem eines sonnigen Sommertages, glich. In Jos Ausdruck erkannte ich Reue, Angst, Traurigkeit und den letzten Funken Hoffnung, der langsam aber sicher erlosch. Vorsichtig öffnete Johannes seinen Mund und formte nach der kurzem Stottern ein tonloses 'Ich liebe dich' mit seinen zitternden Lippen, während die erste Träne seine Wange hinabrollte und von seinem Kinn tropfte. Ohne auch nur einen Hauch von Emotionen zu zeigen, drückte ich mich mit der geschulterten Reisetasche an ihm vorbei in den Flur - natürlich nicht, ohne Johannes dabei demonstrativ anzurempeln.

Ich flüchtete aus unserer gemeinsamen Wohnung, rannte fast und machte erst nach etlichen Häuserecken Halt - für den Fall, dass Johannes mir folgte. Schwer atmend ließ ich mich gegen die Hauswand eines Plattenbaus fallen und sackte an jener hinab. Mein Herz schlug wie wild gegen meinen Brustkorb und pumpte sekündlich Schmerz durch meinen ganzen Körper, der sich ansonsten schrecklich taub anfühlte. Durch den kühlen Aprilwind brannten meine Augen und bettelten mich förmlich an, Flüssigkeit an sie zu lassen und endlich zu weinen, oder wenigstens meine Lider zu schließen. Doch ich starrte einfach nur den Kiosk auf der anderen Straßenseite an, während meine Finger sich in meine Oberschenkel gruben, um zu testen, ob ich in diesem Moment überhaupt in der Lage war, äußerlichen Schmerz zu spüren - Fehlanzeige.

Als ich nicht mehr den Geschmack von Blut in meinem Mund hatte, zwang ich mich zum Aufstehen und schleppte mich den restlichen Weg zu Niels' und Niccis Wohnung, die wohl weiterhin meine Notunterkunft darstellen würde. Vielleicht könnte ich ansonsten aber auch erstmal bei Kris und Steffi unterkommen.
Leise öffnete ich die Wohnungstür und  hörte aus der Küche das Arbeiten der Kaffeemaschine, Niccis leises Kichern und kurz darauf, wie sie Niels küsste.
Das schlechte Gewissen kehrte zurück; die beiden hatten sich in den letzten Tagen wirklich genug mit mir beschäftigt und sollten jetzt endlich ihre Ruhe vor mir haben. Ich lugte auf die von mir fest umklammerten Griffe meiner Reisetasche, stellte diese schließlich fluchtbereit an die Garderobe, die man von der Küche aus nicht sehen konnte, ab und atmete einmal tief durch, ehe ich das beste Lächeln, das ich in meinem Zustand fabrizieren konnte, auf mein Gesicht zauberte. Ich schloss die Wohnungstür und ging in die Küche, in der Niels in Boxershorts an der Küchenzeile lehnte und seine Arme um Nicci schlang, die lediglich eines seiner Hemden trug und ihn innig küsste. Erst nachdem ich mich räusperte, fuhren die beiden auseinander und sahen mich peinlich berührt an.

"Guten Morgen", begrüßte ich die zwei. Nicci sah an sich hinab, während ihre Wangen sich zartrosa färbten: "Ich... geh' mich mal umziehen." Sie huschte schnell an mir vorbei ins Bad und Niels sah ihr verschmitzt grinsend hinterher, bevor er seine Aufmerksamkeit auf mich richtete: "Bist du gerade erst wiedergekommen?" Er griff nach der Tasse unter der Kaffeemaschine und zog skeptisch seine linke Augenbraue hoch.
"Nein, ich bin heute morgen einfach schon früh aufgestanden und bin zu Johannes." Niels verschluckte sich fast an seinem Kaffee und sah mich mit aufgerissenen Augen an: "Ihr habt geredet? Und?" Ich schluckte den Kloß in meinem Hals hinunter und zog meine Mundwinkel noch ein Stückchen weiter nach oben und erwiderte ein "Alles wieder in Ordnung", woraufhin sich in Niels' Gesichtsausdruck schlagartig pure Erleichterung widerspiegelte: "Oh Gott sei dank!" Er zog mich an sich und umarmte mich so fest, dass mir kurz die Luft wegblieb. Ich kniff meine Augen fest zusammen, um nicht augenblicklich in Tränen auszubrechen und meine Fassade aufrechtzuerhalten. Ich wollte kein Mitleid mehr. Ich wollte nicht, dass Niels' sich weiterhin Sorgen machte. Und noch weniger wollte ich darüber reden, dass die Liebe meines Lebens mir fremdgegangen war.
Mein bester Freund löste sich von mir, hatte seine Hände allerdings immer noch auf meinen Schultern abgelegt: "Also habt ihr euch aussprechen können?" Ich nickte kurz angebunden und fuhr mir schließlich durch die Haare: "Ja, ich... Danke für deine und Niccis Unterstützung, Mann." - "Dafür sind wir doch da!" Niels' Grinsen reichte über sein ganzes Gesicht und ich bekam bei dem Gedanken daran, dass ich ihn gerade anlog, schreckliche Gewissensbisse, weshalb ich kurzen Prozess machte: "Du, nimm's mir nicht übel, aber ich wollte dir eigentlich nur Bescheid sagen und mich bedanken... Ich würde sonst jetzt gerne wieder zu Jo." - "Klar, kann ich verstehen", lächelte Niels und zog mich nochmal in seine Arme: "Oh Mann, ich freue mich so für euch." Ich krallte mich förmlich an ihn, um mich zusammenzureißen. Wie gerne würde ich ihm erzählen, was passiert war. Wie ich mich fühlte - einfach nur, um die richtigen Worte zu hören, die der Gitarrist scheinbar immer parat hatte. Doch ich wollte nicht, dass seine so gute Laune, die er durch den gemeinsamen Abend mit Nicci bekommen hatte, durch Sorge um mich ersetzt wird. Und noch weniger wollte ich mir eingestehen, dass die vergangenen zwölf Stunden wirklich passiert sind.

"Ich mich auch, Niels. Ich mich auch."

Bis zum letzten MomentWo Geschichten leben. Entdecke jetzt