Kapitel 102

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Ich sollte Recht behalten; Rick taute von Minute zu Minute mehr auf, stellte sich immer selbstbewusster sämtlichen meiner Freunde und Bekannten vor und schien sich nach und nach richtig wohl zu fühlen.
Als er das erste Mal auf Kris und Steffi traf, war der Gitarrist so ungestellt und locker wie immer - vielleicht etwas zu umgestellt, da Kris' extrovertiertes Auftreten auf dem ersten Blick vielleicht etwas aufdringlich wirken könnte, doch ich hatte Rick schon vorgewarnt. Die beiden schienen sich auf Anhieb sympathisch zu finden und blödelten direkt im dritten Satz ihres Kennenlernens 'rum, indem sie liebevoll über mich herzogen, was ich mit einem Schmollen kommentierte, ehe Rick seine Lippen entschuldigend auf meine drückte.
"Du erwartest aber nicht, dass ich dir auch einen Kuss gebe, oder?", hakte Kris gespielt skeptisch, aber mit einem breiten Grinsen, nach, welches ihm aber schnell aus dem Gesicht wich, als ich ich zu Steffi neben ihm sah und provozierend die Augenbrauen hochzog: "Wenn ich dich daran erinnern darf, hast du mich vor ein paar Jahren quasi angefleht, mich küssen zu dürfen." Bei der Erinnerung an unseren sehr alkoholhaltigen Abend, an dem Kris unbedingt wissen wollte, wie es ist, einen Mann zu küssen, weshalb er am Ende nicht nur mich, sondern auch den damals beleidigten Niels geküsst hatte, wich Kris' Gesichtsfarbe und machte ein paar Sekunden später Platz für zartrosane Wangen. Steffi und Rick blickten beide verwirrt zwischen dem Gitarristen und mir hin und her, bis jener ein perfektes Lächeln aufsetzte und sich an seine Frau richtete, die ihm allerdings schmunzelnd zuvorkam: "Sollte ich da etwas wissen?" - "Nein. Gar nichts." Er küsste Steffi schnell, drehte sie dann an ihren Schultern herum und schob sie dann - mit einem ernsten Blick zu mir - zu ein paar von Niels' alten Studentenfreunden, die Kris ebenfalls größtenteils kannte.

"Sollte ich da etwas wissen?", fragte nun auch Rick, der genauso wenig Ahnung hatte, auf was ich da angespielt hatte, wie Steffi.
"Nein, ich erklär's dir wann anders", lachte ich, bevor ich plötzlich Johannes hinter meinem Freund auftauchen sah und spürte, wie mein Herzschlag sich kurzzeitig beschleunigte. Ich lächelte Jo an, der geradewegs auf uns zugesteuert kam und mein Lächeln mindestens doppelt so breit erwiderte: "Hey, na?" Er hatte Rick nicht mal eines Blickes gewürdigt, als er mich - für mich vollkommen überraschend - kurz in seine Arme zog und wahrscheinlich ahnte, oder es vielleicht auch nur hoffte, wie mein Herz erneut zu rasen begann. Seit unserer Trennung waren wir uns körperlich selten so nah gewesen; an eine richtige Umarmung konnte ich mich nur an meinem Geburtstag, an Silvester, nach der letzten Aufnahme für unser neues Album und nachdem wir dieses zum ersten Mal fertig hören durften, erinnern. Gerade deswegen fragte ich mich, wieso er mich ausgerechnet jetzt umarmen musste. Natürlich würde ich unter normalen Umständen kein großes Drama draus machen, aber irgendwie befürchtete ich, dass es mit Rick zusammenhing, der uns natürlich genauestens beobachtete und an den Johannes sich nun auch wandte: "Hi", begrüßte er ihn kurz und knapp, während seine Mundwinkel sich quälend nach oben zogen, "Du musst dann also Rick sein."
Dieser nickte - ebenfalls wenig überzeugend - lächelnd und schlang ganz nebenbei seinen linken Arm von hinten um meinen Oberkörper und zog mich kaum auffällig ein wenig näher an sich heran: "Ja. Und du bist dann wohl Johannes." - "Gut erkannt." Er lugte für einen Moment auf Ricks Hand, die auf meiner Hüfte lag, ließ seinen Blick dann prüfend in mein Gesicht wandern, in dem man höchstwahrscheinlich Verwirrung über das Verhalten der beiden herauslesen konnte, und sah dann wieder zu meinem Freund, dessen Miene unverändert höflich war.

Ich räusperte mich mahnend, da sowohl Jo als auch Rick wussten, dass es mir wichtig war, dass sie zumindest versuchten, normal miteinander umzugehen oder sich wenigstens zu akzeptieren - mir zuliebe. Die beiden verstanden sofort, Ricks besitzergreifender Griff lockerte sich etwas und auch Johannes legte die Skepsis in seinem Ausdruck weitestgehend ab; nur eine kleine Falte zwischen seinen Augenbrauen blieb zurück.
"Okay, wir... Wir sind doch erwachsen", begann Rick dann nochmal von neu, was ihm sichtlich schwerfiel. "Wir sollten uns also auch so benehmen und uns 'ne Chance geben, uns kennenzulernen." Ich schaute meinen Freund dankend an, rückte wieder etwas an ihn 'ran und drückte meine Lippen auf seine Schulter und verharrte einen kurzen Augenblick so. Es war mir egal, dass Johannes daneben stand und es ihn vielleicht verletzte. Es war mir egal, ob ich Rick nicht so sehr liebte, wie er dachte. Ich war ihm einfach nur dankbar, dass er Größe bewies und sich überwand.

Johannes' Traurigkeit-widerspiegelnder Blick löste sich von mir und schweifte wieder ein kleines Stück weit höher zu Rick, ehe er seufzte und resignierend nickte: "Ja, du hast Recht." Er kratzte sich verlegen im Nacken und zuckte anschließend mit den Schultern: "Wie wär's mit 'nem Bier? Zum Auftauen?" - "Ich hol' uns welches", bot Rick direkt an, gab mir einen Kuss auf die Wange und verschwand mit den Worten "Bin gleich wieder da" zur Bar, während Johannes und ich es uns an einem der noch einigermaßen freien Tische bequem machten.
"So... Das ist er also." - "Johannes, bitte..." - "Nein, ich... Tut mir leid, das war nicht so gemeint. Ich weiß nur nicht, wie ich mich verhalten soll." Er lachte kurz nervös auf und wischte sich dabei die Handinnenflächen an seiner Hose ab.
"Einfach ganz normal", lächelte ich sanft, obwohl ich seine Anspannung natürlich nur zu gut verstehen konnte. "Wie Rick schon gesagt hat; wir sind alle erwachsen."
Johannes stimmte mir nickend zu und da rutschte auch schon Niels, der plötzlich wie aus dem Nichts kam, zu ihm auf die Bank: "Na ihr zwei?" Er grinste uns beide breit an, bevor auch er merkte, dass irgendwas anders war, was er sich allerdings, nach einem kurzen Blick zu Rick an der Bar, schnell selbst erklären konnte. Er sah zu mir, dann zu Jo, legte seinen Arm um dessen Schultern, ehe er entschloss: "Ich hab' jetzt schon richtig Bock auf Trinkspiele. Ich hol' uns Pizza, harten Alkohol und besorge uns noch ein paar Leute."
Als wir nicht, wie von Niels erhofft, mit einem Jubeln antworteten, sondern ihn nur skeptisch ansahen, überspielte er auch dies mit einem Grinsen und stand schon wieder von der Bank auf: "Ja nicht weglaufen. Das Geburtstagskind hat das Sagen."

Bis zum letzten MomentWo Geschichten leben. Entdecke jetzt