Kapitel 9

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Die kalte Winterluft, die mir entgegenkam, als ich eine Stunde später das Gebäude verließ, brachte mich endgültig zurück in die Realität; es war vorbei, das ganze nur für eine Kampagne und mein Versuch, aus der Sache einen Zungenkuss zu machen, reinster Schwachsinn. Johannes ließ sich später nichts mehr anmerken, dennoch sah er mich seltsam an und ich konnte es ihm nicht übel nehmen. Es war dumm von mir, aber ich hatte mich nicht mehr unter Kontrolle gehabt.

Die nächsten Tage waren alle recht trist; ich traf mich ab und an mit den Jungs. Johannes verhielt sich mir gegenüber wie sonst auch, wofür ich ihm dankbar war - vielleicht hatte er die Sache mit dem versuchten Zungenkuss gar nicht so wahrgenommen, wie ich befürchtete. Vielleicht dachte er, dass ich Kathis Worte "Experimentiert ein bisschen" einfach so interpretiert hatte. Vielleicht wollte Johannes mich auch einfach nicht in eine unangenehme Situation bringen, weshalb er mich nicht darauf ansprach.

Wie dem auch sei; mein Geburtstag stand vor der Tür. Ich schaltete mein Handy am 20. Dezember aus und verkroch mich in meiner Wohnung. Ich wollte einfach allein sein und mir einen gemütlichen Tag machen. Doch um kurz vor 18 Uhr, klingelte es an meiner Wohnungstür.
"Was machst du denn hier?", fragte ich genervt, als ich Chris, unserem neuen Bassisten, die Tür öffnete. "Alles Gute, Mann!", grinste er und umarmte mich. "Komm, zieh dir was vernünftiges an; wir müssen los." - "Was? Wohin? Ich hab doch gesagt, ich will nix großes anstellen und lieber alleine zuhause bleiben." - "Glaubst du wirklich, dass die anderen nix geplant haben? Na komm schon, Jakob; man hat nur einmal im Jahr Geburtstag." Ich seufzte und schlurfte in mein Schlafzimmer, wo ich meine Jogginghose gegen eine Jeans und mein Shirt gegen ein frisches austauschte. "Bereit?", fragte Chris, als ich in meine Schuhe schlüpfte und mir meinen Mantel überzog. Ich zuckte lustlos mit den Schultern und trottete dem kleinen Bassisten hinterher in sein Auto.
Die Fahrt dauerte nicht lange, bis wir an einer Kneipe ankamen. Chris öffnete mir die Tür und wackelte mit den Augenbrauen: "Das Geburtstagskind", sagte er mit hochgezogener Nase und unterdrückte sich dabei ein Lachen. "Idiot", war mein liebevoll gemeinter Kommentar dazu, ehe ich Kris durch den Schnee auf uns zukommen sah: "Jakob! Herzlichen Glückwunsch, Großer!", lachte er, während auch er mich fest drückte. "Danke. Aber das mit der Party wäre echt nicht nötig gewesen; zuhause auf meinem Sofa war es auch schön." - "Schon naiv, wenn du allen Ernstes geglaubt hast, dass wir deinen Wunsch, dich an deinem Geburtstag alleine zu lassen, einfach akzeptieren", schmunzelte Kris und wuschelte mir durch die Haare. "Kommt schon; lasst uns rein. Aber als Warnung: Johannes hat schon ganz schön einen Intus." - "Jetzt schon?", fragte Chris nach einem Blick auf die Uhr; es war gerade mal 18:20 Uhr. Kris verdrehte die Augen, zuckte mit den Schultern und seufzte.
Wir betraten die Bar, wo alle meine Freunde versammelt waren, die direkt begannen 'Happy Birthday' zu singen, als sie mich bemerkten. Sowas war mir schon immer unangenehm, aber da war ich auch nicht alleine.
Als das letzte 'to you' verklang, klatschten alle und einer nach dem anderen, gratulierte mir, bis ich schließlich Johannes lauthals sagen hörte: "Jetzt bin ich aber mal an der Reihe, meinem Knutsch-Buddy zu gratulieren!" Er quetschte sich durch die vielen Leute, nahm mein Gesicht in seine Hände und küsste mich einfach ohne jegliche Vorwarnung. Bevor ich überhaupt realisieren - geschweige denn, genießen - konnte, was da gerade geschah löste sich Johannes von mir und rief: "So gratuliert man Jay richtig!" Und da verschwand er auch schon wieder; begleitet von lautem Gejubel und Geklatsche der anderen, die alle von unserer Teilnahme bei der #Mundpropaganda Aktion wussten.
Ich blieb wie angewurzelt stehen, nahm die restlichen Glückwünsche nur noch halb wahr und schmeckte auch nach einigen Minuten immer noch den Geschmack von Rotwein und Jägermeister von Johannes' Lippen auf meinen.

"Wann willst du es ihm sagen?", riss mich Niels aus meinen Gedanken, als ich gegen halb 12 draußen im Schnee stand und einfach nur geradeaus starrte und nachdachte. Die Party war in vollem Gang, aber mir war einfach nicht nach feiern.
Ich sah Niels fragend an und er schnaubte: "Komm schon, Jakob. Ein Wunder, dass Johannes es nicht selber rafft." Ich spürte, wie jegliche Farbe aus meinem Gesicht blich und ich starrte Niels einfach nur fassungslos an: "Wo...wovon redest du?", stotterte ich und tat einen auf ahnungslos. Niels legte seinen Kopf zur Seite und zog erwartungsvoll die Augenbrauen hoch; er hatte mich. Seit wann ahnte er es schon? Und dachte Kris das gleiche? Generell...hatte irgendwer anderes irgendwas mitbekommen?
Ich drehte meinen Kopf wieder nach vorn und sah erneut geradeaus; auf meinen Augen hatte ich eine Tränenschicht, aber ich wollte nicht los weinen. Nicht hier. Und nicht vor Niels.
"Du liebst ihn. Stimmt's?" Ich senkte den Blick und sah auf meine Schuhe. Noch nie habe ich das Wort 'Liebe' mit Johannes in Verbindung gebracht. All die Jahre, in denen sich die Gefühle für ihn vermehrt haben, habe ich mir selbst diesen Begriff grundsätzlich verboten - vielleicht war das eine Art Selbstschutz. Liebe ist viel mehr als eine Schwärmerei. Doch Niels' Frage traf ins Schwarze. Ja, ich liebe ihn. Zum ersten Mal ließ ich den Gedanken zu, doch es aussprechen, war immer noch unmöglich. Stattdessen begannen die Tränen nun zu laufen.
"Hey...", flüsterte Niels behutsam, als er es bemerkte. Er legte seinen linken Arm um mich und zog mich so in eine feste Umarmung; seine rechte Hand platzierte er auf meinem Hinterkopf und ich schlang,  wie ein kleines Kind, das sich das Knie aufgeschlagen hatte und zur Mutter rannte, meine Arme fest um Niels' Mitte.
"Das ist doch nicht schlimm, Jakob. Kein Grund zu weinen, hörst du?"

Bis zum letzten MomentWo Geschichten leben. Entdecke jetzt