Kapitel 21

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"Wo ist er?", fragte ich Anna und sie zuckte mit den Schultern: "Wir sind erst vor zwei Stunden wieder in Hamburg angekommen. Er wollte bisschen frische Luft schnappen. Ich dachte, er geht zu dir." - "Ok, Anna, geh zu irgendeiner Freundin, ja? Zu Nicci, Steffi, keine Ahnung; irgendwohin. Bleib nicht alleine, ja?" Sie nickte unsicher und ich umarmte sie noch einmal fest.

Ich sprintete durch halb Hamburg, bemühte mich, nirgends auszurutschen und rannte einfach immer weiter. Die kalte Luft schmerzte irgendwann schon in meinen Lungen, doch ich ignorierte es. Ich erreichte die Straße, in der ich wohnte und tatsächlich fand ich Johannes auf einer Treppenstufe im Hauseingang sitzen. Er hatte seine Ellenbogen auf seinen Knien abgestützt und starrte auf die Straße.
"Hey", lächelte ich schüchtern und er sah erschrocken auf, bevor sich ein kleines Lächeln in seinem Gesicht bildete. Ich machte eine Kopfbewegung Richtung Tür und er nickte, woraufhin ich aufschloss und wir hoch in meine Wohnung gingen.

"Möchtest du etwas trinken?", bot ich an, nachdem ich meine Schuhe und meinen Mantel ausgezogen hatte. Er schüttelte mit dem Kopf, kam einen großen Schritt auf mich zu und nahm mein Gesicht in seine Hände, während er mich innig küsste und gegen die Wohnungstür presste. Er fuhr mit seiner Zunge über meine Lippen, bis ich sie ein Spalt weit öffnete und es zuließ, dass er jene in meinen Mund schmuggelte.
Mein Kopf schaltete mal wieder komplett aus und Johannes wurde immer fordernder, löste sich jedoch irgendwann abrupt von mir und grinste schief: "Das hat sich in den letzten Tagen so angestaut", meinte er und mein Gehirn kam wieder in Gang: "Du meinst, als du mit deiner Freundin einfach in den Urlaub gefahren bist?" Ich klang pampiger, als gewollt, drückte mich an ihm vorbei und ging in die Küche. Johannes folgte mir hastig, blieb allerdings im Türrahmen stehen und bevor er auch nur irgendetwas sagen konnte, ergriff ich das Wort: "Weißt du, wie scheiße es ist, wenn man jemanden sagt, dass er sich zwischen dir und einer dritten Person entscheiden muss, und dieser Jemand dann ohne auch nur ein Sterbenswörtchen zu sagen, mit der dritten Person verschwindet?" Der Frust der letzten Tage platzte aus mir heraus. Ich hatte eben schon fast vergessen, wie unfassbar wütend und verletzt ich eigentlich war.
"Ich dachte, du hast dich für Anna entschieden, was ich an sich schon irgendwie verkraftet hätte. Aber genauso dachte ich, dass ich dir scheinbar so wenig bedeute, dass du mir deiner Meinung nach nicht einmal eine winzig kleine Erklärung schuldig bist!" Ich wurde immer lauter, ließ all die Wut, die sich angestaut hatte raus, während Johannes mich hilflos und mit schuldbewusstem Gesichtsausdruck anstarrte.

"So, war das nicht...", stammelte er schließlich.
"Ich weiß. Ich komme gerade von Anna", sagte ich wieder wesentlich ruhiger. Ich drehte mich von Johannes weg und stütze mich mit meinen Händen auf den Rand der Spüle ab, senkte den Kopf und atmete ein paar mal tief durch, um wieder runterzukommen.
"Du kommst was?" - "Sie hat mich abgefangen und wollte mit mir reden. Johannes, sie weiß seit Silvester Bescheid, sie hat uns gesehen, ok?" Ich hörte, wie Johannes sich ein Fluchen unterdrückte, ehe er sich auf einen der Küchenstühle fallen ließ.

"Es tut mir leid. Ich hätte dir zumindest 'ne Nachricht schreiben sollen", unterbrach Johannes die aufkommende Stille. "Ich wollte nur sicher sein, dass ich Anna wirklich nicht mehr liebe, bevor ich unsere jahrelange Beziehung einfach so wegschmeiße." - "Das kann ich ja verstehen", murmelte ich setzte mich ihm gegenüber.
"Und?", fragte ich. Ich wusste zwar bereits von Anna, dass er allem Anschein nach keine Gefühle mehr für sie hatte, aber ich wollte es von ihm hören. Und ich wollte wissen, was er über sich und mich - über uns - dachte.
Er sah mich an; seine Augen strahlten Wärme aus und ein kleines Lächeln war auf seinen Lippen zu sehen, auch, wenn man bei genauer Betrachtung etwas trauriges in seinem Blick erkannte.

"Da ist nichts. Ich...ich spüre einfach kein Kribbeln mehr, wenn ich sie sehe, umarme, küsse. Ich habe es schon länger vermisst; vielleicht sogar schon Monate oder Jahre." Ich sah ihn verwirrt an und er wusste ganz genau, welche Frage in meinem Kopf herumschwirrte. "Mir wurde es erst klar, als du mich geküsst hast. Beim Shooting. Ich hatte dieses Knistern auf meinen Lippen und dieses warme Gefühl in meinem ganzen Körper. In dem Moment wurde mir erst einmal bewusst, dass ich das seit Ewigkeiten nicht mehr hatte und wie sehr es mir doch unbewusst gefehlt hatte."
Ungewollt huschte mir ein Lächeln über mein Gesicht. Hätte ich mich eine Sekunde länger in diesen wunderschönen, treuen braunen Augen verloren, die seine kleine 'Liebeserklärung' so perfekt begleitet haben, wie eine Melodie einen Songtext, wäre ich aufgesprungen und hätte Johannes geküsst. Wahrscheinlich dringender und leidenschaftlicher, als jeder andere Kuss zuvor.
Doch genau dann wandte Johannes seinen Blick von mir und sah zu Boden: "Ich wollte innerhalb der nächsten Tage mit Anna sprechen, sie nicht direkt überrumpeln. Ich wollte es ihr irgendwie schonend beibringen; wie auch immer man sowas jemandem schonend beibringen kann. Dass sie uns Silvester gesehen hat, erklärt natürlich ihren Absturz, aber es macht auch alles einfach noch viel komplizierter, als es ohnehin schon ist..."

Ich griff nach Johannes' linker Hand, die auf dem Tisch lag, und strich behutsam über seinen Handrücken. Seinen rechten Ellenbogen hatte er auf den Tisch abgestellt und stützte damit seinen Kopf. Doch auch durch seinen gesenkten Blick, erkannte ich die Verzweiflung, die ihn quälte.
"Seit zwölf Tagen verfolgt sie das Bild von ihrem Freund mit seinem besten Freund knutschend im Treppenhaus und sie wartet darauf, dass ich ihr endlich die Wahrheit sage. Stattdessen buche ich Feigling einen romantischen Urlaub und versuche uns beiden vorzugaukeln, dass ich sie noch liebe." - "Du wolltest ihr nicht wehtun; ganz im Gegenteil", versuchte ich ihn aufzumuntern, doch es klappte nicht. Er wusste, dass er mit jedem weiteren Tag am Strand, mit jedem weiteren Kuss und jeder weiteren falschen Liebeserklärung, Annas Herz nur mehr hat zerbrechen lassen. An ihrer Stelle hätte ich mich irgendwann gefragt, wann Johannes angefangen hat, das alles - ihre gesamte Beziehung - nicht mehr ernst zu meinen.

"Geh zu ihr", bat ich ihn, auch, wenn ich ihn am liebsten bei mir behalten hätte. Anna hat die komplette Wahrheit verdient und Johannes' Gewissen und ihm selbst würde es auch gut tun, Klartext zu reden und eventuell in Frieden mit ihr auseinander zu gehen. "Wäre das beste, oder?", murmelte er und ich nickte, stand auf und zog ihn mit auf die Beine, um ihn in den Flur zu schieben, seine Jacke zu reichen und ihn noch einmal fest in meine Arme zu schließen.
Er klammerte sich fest an mich, als wäre ich sein einziger Halt in dieser Situation. Als wir uns zumindest ein wenig voneinander lösten, lehnte er seine Stirn an meine und sah mir tief in meine Augen.
Das Verlangen in mir trat wieder auf, ihn zu küssen, doch ich verbot es mir selbst, solange, bis er nicht mehr vergeben war. Ich würde niemals wieder gut machen können, welche Schmerzen Anna wegen Johannes und mir durchleiden wird und in den vergangenen Tagen schon musste, und deswegen war ich ihr zumindest das schuldig. Auch, wenn es nichts mehr verändert hätte - moralisch betrachtet, konnte ich das nicht mit mir vereinbaren.

"Ich komme wieder und dann wird endlich alles gut, ok?", flüsterte Johannes, der wohl mit dem gleichen Verlangen zu kämpfen hatte. "Ich nehme dich bei Wort, Strate", versuchte ich, diese seltsame Situation aufzulockern und tatsächlich musste Johannes ein wenig lachen; fast tonlos und nur für ein paar wenige Sekunden, aber er lachte.

Bis zum letzten MomentWo Geschichten leben. Entdecke jetzt