Kapitel 70

276 19 5
                                    

"Shit, Jakob, was ist denn mit dir passiert?" Niels' weit aufgerissene Augen musterten mich von oben bis unten, als er mir gerade seine Wohnungstür geöffnet hatte. Ich musste schrecklich aussehen; mein Gesicht war vom starken Weinen garantiert verquollen und fleckig, die vor Schmerz pochenden Fingerknöchel meiner rechten Hand waren blutig und diese pure Verzweiflung, die in mir drinnen herrschte,  war sicherlich in meinem Ausdruck abzulesen. Durch den dicken Tränenschleier, der sich gerade wieder in meinen Augen bildete, erkannte ich, wie Niels seine Hand nach mir streckte, und ich spürte, wie er mich sanft an meiner Schulter packte und mich in seine Arme zog, in denen ich anschließend bitterlich zu schluchzen begann.

Nach einer gefühlten Ewigkeit löste ich mich von dem Gitarristen und erkannte nur wenige Meter hinter ihm Nicci, die unbeholfen im Flur stand und mich besorgt ansah. Ein gelächeltes "Hey, Nicci" war mein kläglicher Versuch, die Anspannung in der Luft aufzulösen, doch das Zittern meiner Stimme ruinierte alles. "Johannes?", fragte sie vorsichtig, was augenblicklich dazu führte, dass die nächste Welle an Tränen sich bereit machte. "Komm erstmal 'rein", sagte Niels mit ruhiger Stimme, legte seine Hand an meinen Rücken und schob mich sanft ins Wohnzimmer, wo ich mich aufs Sofa setzte - Nicci ließ sich neben mir fallen und Niels hockte sich vor mich, bevor er nach meinen Händen griff und versuchte, Augenkontakt aufzunehmen. Doch ich blockte ab und starrte stattdessen stur nach unten.
"Was ist passiert, Jakob?" Es kostete mich einiges an Überwindung und meinen Freunden eine Menge Überzeugungskraft, bis ich endlich mit der Wahrheit 'rausrückte und detailliert erzählte, was vorgefallen war. Sie hörten mir aufmerksam zu und warteten geduldig die kurzen Pausen zwischendurch ab, die entstanden, wenn ich mich darauf konzentrieren musste, nicht wieder los zu weinen, wie ein jämmerliches Kind. Mit jedem ausgesprochenen Aspekt wurde mir bewusster, wie ernst die Situation um Johannes und mich eigentlich war und wie wir beide unseren Beitrag dazu geleistet haben. Egal, wie sehr wir uns irgendwann mal gestritten hatten - es ist nie dazu gekommen, dass einer die Trennung wollte.
"Oh man", murmelte Nicci, als ich endlich am Ende der Geschichte angekommen war, von dem ich hoffte, dass es nicht auch das Ende von Jos und meiner Beziehung war. "Aber ich denke, du hast Recht, was den Abstand betrifft; ihr braucht beide, glaube ich, wirklich etwas Zeit, um nachzudenken." Niels stimmte seiner Freundin mit einem Nicken zu, bevor sie fortfuhr: "Schreib Johannes, dass du vorerst bei Freunden unterkommst, damit er sich keine Sorgen macht. Und in ein paar Tagen redet ihr dann nochmal in aller Ruhe, hm?" Ich sagte einfach nichts - zu sehr war ich damit beschäftigt, mich selbst zu bemitleiden. Ich bekam gedämpft mit, wie Niels Nicci leise darum bat, uns allein zu lassen und etwas für meine Hand vorzubereiten, die wahrscheinlich wirklich mal versorgt werden sollte. Die Blondine strich mir noch einmal rasch über den Rücken, bevor sie aufstand und das Wohnzimmer verließ.

Niels nahm ihren Platz neben mir ein und ich lehnte mich kraftlos gegen ihn. "Haben wir Schluss gemacht?", fragte ich mit gebrochener Stimme. Seufzend zögerte Niels die Antwort hinaus, bis er seine Hand auf meine legte und sanft mit seinem Daumen über meinen Handrücken streichelte: "Nein, Jakob. Ihr habt euch einfach viel zu sehr in diesen Streit hineingesteigert und vermutlich all euren Frust wegen all den anderen vergangenen Streitigkeiten 'rausgelassen. Gebt euch gegenseitig etwas Raum und dann wird das alles wieder - ich kenn' euch doch." Niels' Arm legte sich um meinen Oberkörper und drückte mich fester an den seinen. "Ihr zwei liebt euch, sonst wärst du doch jetzt nicht so aufgelöst, und ihr habt doch schon viel schlimmeres überstanden." - "Ich bin gerade einfach viel zu traurig und wütend auf ihn und mich, um von Liebe zu reden", nuschelte ich stur, was Niels kurz und leise auflachen ließ, bevor er auch seinen zweiten Arm um mich legte und es hinnahm, dass ich seinen Pullover mit meinen Tränen tränkte.

Nachdem Nicci sich um meine Hand gekümmert hatte und Niels eine Bettdecke und Kissen fürs Sofa bezogen hatte, schrieb ich Johannes eine SMS, wie meine beiden Freunde es mir geraten hatten. Ich erwähnte allerdings nicht, bei wem genau ich unterkommen würde, da Jo sonst eh bald vor der Tür stehen würde - naja, vermutlich konnte er sich eh denken, wo ich steckte. Aber ich schrieb einfach nur, dass ich für ein paar Nächte bei Freunden sein würde und mich noch melden würde. Ich starrte lange auf die zwei Haken hinter meiner Nachricht, die sich sofort nach dem Abschicken blau gefärbt hatten, als hätte Jo nur auf ein Lebenszeichen von mir gewartet. Es vergingen Jahre, bis die knappe Antwort "Ok." zurückkam. Seufzend legte ich das Handy auf den Wohnzimmertisch und schlüpfte unter die weiche Bettdecke auf der bequemen Couch in Niels' und Niccis Wohnzimmer. Ich vergrub mein Gesicht im nach Waschmittel riechenden Kopfkissen und ohrfeigte mich innerlich selbst dafür, heute Nachmittag einfach gegangen zu sein, als Johannes sein Schluss-machen rückgängig machen wollte. Doch ich war so verletzt und wütend, dass ich davon gar nichts wissen und ihm stattdessen einen Denkzettel verpassen wollte. Ich stöhnte frustriert ins Kissen, als ich plötzlich die Verlagerung des Sofapolsters spürte: "Sieht nicht so aus, als könntest du schlafen", hörte ich Niels' warme Stimme, woraufhin ich mich umdrehte: "Du scheinbar auch nicht." - "Ich mache mir neunmal Sorgen um meine besten Freunde." - "Tut mir leid", nuschelte ich, doch Niels schüttelte nur sanft mit dem Kopf: "Sag das nicht."
Kurze Stille trat ein, bis der Gitarrist sie wieder unterbrach: "Es ist zwar schon spät, aber irgendeine Pizzeria hat bestimmt noch offen und meine DVD-Sammlung ist vor kurzem nochmal gewachsen, also wie wär's: Pizza und Film?" Ich zwang mir ein Lächeln auf und nickte schließlich: "Gern."

Bis zum letzten MomentWo Geschichten leben. Entdecke jetzt