Kapitel 10

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Ich stand noch lange so da in Niels' Armen und spürte die ein oder andere Träne über meine Wange laufen. Es schneite und war arschkalt, doch so wie ich aussah, und so, wie ich mich fühlte, konnte ich nicht einfach wieder rein und meinen Geburtstag feiern.
Niels zitterte auch am ganzen Körper und es tat mir leid, dass er wegen mir frieren musste, aber ich konnte und wollte in diesem Moment einfach nicht alleine sein. "Setzen wir uns", sagte er leise und ich nickte. Circa zwei Meter neben der Tür zur Bar stand eine kleine Bank, die dank des überstehenden Daches nicht zugeschneit war und auf die wir uns fallen ließen. Mit seinen blauen Augen musterte Niels besorgt mein Gesicht.
"Seit wann weißt du's?", fragte ich mit zittriger Stimme. "Um ehrlich zu sein, habe ich mir die Frage, ob da vielleicht mehr von deiner Seite aus ist, ganz am Anfang gestellt, als du Johannes in die Band geholt hast. Ich hab es dann aber erstmal auf deinen Enthusiasmus geschoben. Aber seit der Sache mit seinem Soloalbum...keine Ahnung, seitdem lässt mich der Gedanke nicht locker."
Natürlich. Die Frage damals "Er hat's dir echt angetan, oder?", nachdem Johannes auch Kris und Niels zum ersten Mal eines seiner Lieder gezeigt hatte, war tatsächlich auf Johannes bezogen. Nicht auf das Lied, wie Niels später noch behauptete. Er wollte meine Reaktion sehen. Und die musste Auskunft genug gewesen sein.
"Und das Shooting neulich..." - "Du hast es gesehen", unterbrach ich ihn leise und sah beschämt zu Boden. Im Augenwinkel erkannte ich, wie Niels nickte. "Ich hab einfach extrem auf dich und dein Verhalten geachtet; da konnte ich es nicht übersehen. Die Zusage von dir für die Kampagne war sowieso echt mutig." - "Du meinst wohl 'dumm'. Es war dumm von mir." Ich atmete schwer aus und vergrub mein Gesicht in meinen Handflächen. Niels sagte nichts. Wahrscheinlich weil er mir eigentlich zustimmte; es war nunmal dumm von mir. Aber ich wollte doch einfach nur ein Zeichen gegen Homophobie setzen. Zugegeben; ich wollte auch endlich wissen, wie es ist, Johannes zu küssen. Den Mann, für den ich jahrelang schwärmte.
"Und seit wann empfindest du was für ihn?" Niels' Stimme unterbrach meine Gedanken. Ich zuckte mit den Schultern. Keine Ahnung. Vielleicht tatsächlich schon seit unserer ersten Begegnung. Er war ein arrogantes, hinablassendes Arschloch, wirkte irgendwie rebellisch und vielleicht war es genau das, was ihn so anziehend für mich gemacht hatte. Vielleicht bin ich deswegen so fasziniert von ihm gewesen; weil er genau das gewesen ist, was ich immer sein wollte. Doch ich war nur der schüchterne Drummer, der ganz hinten am Schlagzeug sitzt und einen heftigen Hustenanfalll bei seiner ersten Zigarette bekam - dann auch noch vor diesem besagtem Arschloch. Und um ehrlich zu sein, hatte ich mich seither nicht wirklich verändert. Ich hatte danach nicht einmal mehr eine Zigarette in der Hand.
"Ich bin so dumm! So dumm, so dumm, so dumm!", fluchte ich laut und raufte mir die Haare, Niels legte seine Hand auf meinen Rücken und sagte: "Nein, Jakob. Du bist nicht..." - "Wieso bist du dumm?", hörte ich Johannes lallen und ich schreckte hoch. Er stand in der Tür. Schon wieder.
Er war schon bei meiner Ankunft betrunken und hatte danach noch einmal alles gegeben. Niels sah mich fragend an, doch ich senkte nur den Blick. "Ich lass euch alleine", flüsterte er und stand auf. "Niels?" Er drehte sich nochmal zu mir um, doch ich brachte keinen Ton raus. Keine Ahnung, wieso, aber ich war zu sehr damit beschäftigt, meine Tränen zu unterdrücken.
"Ich bin für dich da, ok?" Jetzt konnte ich wieder reden, wenn auch nur ganz leise: "Danke", flüsterte ich also und er nickte lächelnd, schob Johannes neben mich auf die Bank und ging wieder rein.
"Mann, weinst du?", fragte Johannes verblüfft, als er mein Gesicht musterte. Ich antwortete nicht. Seine Alkoholfahne konnte ich deutlich riechen; wahrscheinlich hätte er meine Antwort am nächsten Tag also sowieso wieder vergessen. "Ich hab dich noch nie weinen sehen", murmelte er. "Und wenn ich ehrlich bin, war ich da auch ganz erleichtert drüber; das bricht mir gerade irgendwie das Herz." Ich lachte kurz auf; Johannes war in betrunkenem Zustand immer eine Mischung aus niedlich und witzig.
Wenn er wüsste, dass er der Grund ist, weshalb ich dort weinend saß. Weshalb ich generell weinte. Ich glaube, das erste mal, dass ich wegen Johannes geweint habe, war, als ich sein Soloalbum zum erstenmal gehört habe und das siebte Lied gespielt wurde: Guten Morgen Anna.
Johannes und ich hatten viel Zeit miteinander verbracht, während der Aufnahme von seinem Album und trotz Bandpause, und irgendwie war ich so naiv, dass ich mir Hoffnungen gemacht habe. Von dem Lied wusste ich allerdings nichts. Doch als ich es hörte, wurde mir schlagartig bewusste, dass ich nie Chancen bei Johannes hatte. Er hat Anna. Er hat ihr sogar einen Song geschrieben. Und sie waren glücklich. Ich sollte das zumindest zwei Jahre später akzeptiert haben, doch ich konnte nicht.

Bis zum letzten MomentWo Geschichten leben. Entdecke jetzt