Kapitel 93

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Die kalte Dusche mit Rick ließ uns beide deutlich wacher werden, sodass wir uns im Anschluss leicht dazu motivieren konnten, uns etwas anzuziehen und meine Wohnung zu verlassen. Wie versprochen lud ich Rick zu einem Kaffee ein und spendierte uns beiden jeweils ein belegtes Brötchen, bevor wir noch zusammen ein Stück weit Richtung Studio schlenderten. Er war stiller, als ich es von ihm gewohnt war, wirkte nachdenklich und abgelenkt, während ich ihm von der gestrigen Aufnahme erzählte. Doch so wirklich schien er mir nicht zuzuhören, weshalb ich mitten in meiner Erzählung stoppte und er selbst davon nichts mitbekam. Seufzend musterte ich Rick kurz, während er auf seinen Kaffeebecher starrte, und zuckte dann resignierend mit den Schultern.

Vermutlich hatte er längst gewusst, dass ich keine nennenswerten Gefühle für ihn hatte, doch das eben nochmal so direkt bestätigt zu bekommen, muss gesessen haben, auch wenn er es erstmal gut überspielen konnte. Aber immerhin bin ich ehrlich zu ihm gewesen und wenn er diese Affäre so nicht wollte, könnte er sie jederzeit beenden - ich zwang ihn schließlich zu nichts.
Solange er allerdings nichts dergleichen unternahm, würde ich so weitermachen wie bisher. Vielleicht war es egoistisch, doch seitdem Kris mich überredet hatte, mal wieder 'rauszugehen, und seitdem ich mich entweder hin und wieder mit Rick traf oder ansonsten mit anderen Männern aus irgendwelchen Bars mitging, ging es mir deutlich besser. Ich bin aus meinem Alltagstrott 'rausgekommen, der bis dato daraus bestand, den Großteil meiner Zeit auf meiner Couch zu verbringen und meinem Ex hinterherzutrauern. Außerdem schien mir dieser unverbindliche Sex mit anderen dabei zu helfen, Johannes' Nähe ertragen zu können, weil mein Selbstwertgefühl stieg, das nach Jos Seitensprung und meinen Schuldgefühlen diesbezüglich vollkommen zerstört gewesen ist.
Mir war bewusst, dass es wahrscheinlich Wunschdenken und der reinste Schwachsinn war, doch seit ich Kris' Rat befolgte und ein wenig in der Männerwelt 'rumkam, baute ich langsam wieder Hoffnung auf, dass aus Johannes und mir eines Tages wieder so etwas wie Freunde werden könnte.

"Ich muss hier 'rein." Rick, der seine Stimme scheinbar endlich wieder gefunden hatte, holte mich aus meinen Gedanken und nickte in eine Seitenstraße. "Danke nochmal für die Verpflegung. Ich meld' mich bei dir", lächelte er leicht, ehe er sich hastig umdrehte und in besagter Seitenstraße verschwand.
"Bis dann", rief ich ihm überrumpelt hinterher, bevor ich an meinem Kaffee nippte und die restlichen paar hundert Meter zum Studio alleine zurücklegte.

"Dein Engagement in allen Ehren, Jakob", begrüßte Sascha mich, nachdem ich den Raum betreten und er mich überrascht angesehen hatte, "Aber falls du während des vergangenen halben Jahres nicht heimlich Gitarre spielen gelernt hast, weiß ich nicht, wieso du hier bist."
Ich runzelte skeptisch die Stirn, wollte etwas sagen, doch versuchte zunächst, den Aufnahmeplan in mein Gedächtnis zu rufen, während Kris mich amüsiert angrinste und Sascha leise lachend mit dem Kopf schüttelte.
"In den nächsten Tagen werden nur die Gitarrenspuren aufgenommen. Schlagzeug ist, glaube ich, erst in fast zwei Wochen wieder dran", half Kris mir dann letztendlich auf die Sprünge.
"Übernächsten Dienstag, um genau zu sein. Bis dahin hast du eigentlich frei", schmunzelte unser Manager und ich lehnte mich stöhnend mit dem
Rücken gegen die Wand: "Das kann doch nicht wahr sein", murmelte ich genervt und fuhr mir durch meine noch leicht feuchten Haare. "Und warum liege ich dann jetzt nicht noch im Bett?"
"Hast du etwa wieder vergessen, dass das Schlagzeug jetzt erstmal nicht benötigt wird?", fragte Niels schelmisch, als er das Studio mit Johannes im Schlepptau betrat. Ein kurzer Blick in mein Gesicht schien für die beiden Antwort genug zu sein: "Unser Jakob - bei jedem Album das gleiche", kommentierte es Jo schief grinsend, woraufhin dieses Grinsen aber augenblicklich gefror und ich an seinem Adamsapfel erkannte, wie er schwer schluckte. Auch mir stockte kurz der Atem, während wir den Blick nicht vom jeweils anderen lösen konnten. Es war lächerlich, doch die Tatsache, dass Johannes über mich und irgendwie mit mir scherzte, war etwas, womit wohl keiner von uns gerechnet hätte. Früher war das Alltag - das normalste der Welt -, doch nach allem, was vorgefallen war, waren allein die kurzen Wortwechsel zwischen Johannes und mir in den letzten Tagen ursprünglich unvorstellbare Szenarien gewesen. Dieser einfache Scherz - so simpel und kurz er vielleicht war - brachte uns beide für einige Sekunden aus dem Konzept. Lächerlich. Nervös räusperte Johannes sich schließlich und wir brachen den intensiven, verwirrenden und peinlichen Blickkontakt ab.

Die anderen schienen nichts wirklich davon mitbekommen zu haben, sodass sie erst wieder auf mich aufmerksam wurden, als ich mich an Sascha richtete: "Weißt du, ob hier ein Raum frei ist, wo ich trotzdem 'n bisschen Schlagzeug spielen kann?" - "Wir haben das ganze Stockwerk für uns; du kannst dich also austoben." Ich nickte, bedankte mich und warf Johannes noch einen kurzen Blick zu, ehe ich zur Tür hinaushuschte.

Die nächsten Stunden verbarrikadierte ich mich ein paar Räume weiter. Ich saß hinter einem der neusten Schlagzeuge, die es derzeit auf dem Markt gab, und spielte mir die Seele aus dem Leib. Es war schon lange her, dass ich nur für mich und ohne jegliche Vorgaben meiner Leidenschaft nachging. Es fühlte sich unglaublich gut an und ich erinnerte mich wieder daran, wie das Schlagzeugspielen eine Art Therapie für mich sein konnte; ich konnte Erlebnisse und Gefühle dabei verarbeiten und meinem Frust freien Lauf lassen. Es war befreiend und vielleicht merkte ich deswegen nicht, wie die Zeit verging.
Erst nach drei Stunden, als ich vollkommen verschwitzt, verdurstet und außer Atem die Drumsticks zur Seite legte, wagte ich einen Blick auf die große Uhr über der Tür. Keuchend stand ich auf, schnappte mir meine Jacke und trottete wieder zurück zum Hauptraum, weil ich wusste, dass dort irgendwo eine Kiste Wasser stehen musste.

Ich bleib abrupt stehen, als ich den Raum betreten hatte und verdutzt feststellte, dass bis auf Johannes niemand anderes da war. Er sah zu mir und ich bildete mir ein, in seinem Gesichtsausdruck ablesen zu können, wie sein Herz einen Schlag aussetzte.
"Wo... wo sind denn alle?", fragte ich keuchend und nervös.
"Es hat heute nichts wirklich klappen wollen, also..." Johannes stoppte und wandte seinen Blick von mir ab und starrte auf eine volle Bierflasche vor ihm. "Wir haben früher Schluss gemacht und wollen's morgen einfach nochmal neu probieren. Ich wollte nur ein bisschen hier bleiben und noch etwas 'rumprobieren." Er zupfte vorsichtig an einer Saite seiner Gitarre und schaute anschließend wieder vorsichtig zu mir. Er musterte mich von oben bis unten genau und biss sich mit verzweifeltem Ausdruck auf die Unterlippe; "Du weißt gar nicht, wie unglaublich sexy ich es finde, wenn du dich beim Schlagzeugspielen so sehr 'reinhängst, dass du verschwitzt bist", hatte er mir damals öfter nach Auftritten, Proben und kleinen privaten Sessions unter uns beiden ins Ohr gehaucht, bevor er meinen Körper an seinen gepresst und seinen Mund auf meinen gedrückt hatte. Bei der Erinnerung überflutete mich das Gefühl von Verlangen und ich spürte das Knistern auf meinen Lippen, das damals immer bei Jos und meinen Küssen so präsent gewesen ist.

"Oh, ach so", murmelte ich schnell und steuerte anschließend auf die Wasserkiste zu, aus der ich mir eine 0,5 Liter-Flasche nahm, sie öffnete und in einem Zug leerte. Obwohl ich mit dem Rücken zu Johannes stand, spürte ich immer noch seinen intensiven Blick auf mir, wodurch die Hitze in mir nur stieg und ich leicht zu zittern begann.
Ich stellte die leere Flasche zurück und drehte mich wieder um: "Vielleicht kommt dir ja noch 'n gutes Gitarrensolo fürs Album in den Sinn", meinte ich hastig, wobei ich meine Finger in meine Jacke krallte, die bis eben noch über meinen Unterarm gelegen hatte.
"Ja, daran arbeite ich ehrlich gesagt gerade sogar tatsächlich", erklärte Johannes und lächelte sanft, was ich vorsichtig zu erwidern versuchte. Ich nickte einmal und wollte gerade wieder gehen, als mich seine warme Stimme, die so verängstigt klang, zurückhielt: "Willst du auch 'n Bier?"

Bis zum letzten MomentWo Geschichten leben. Entdecke jetzt