Kapitel 82

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"Mann, war ich schon lange nicht mehr hier", lachte Kris, als er mein altes Jugendzimmer in meinem Elternhaus betrat. Die Temperaturen draußen hatten sich irgendwann ganz schön abgekühlt, weshalb wir uns dazu entschlossen hatten, ins Warme zu flüchten, wo meine Eltern bereits ungeduldig und nervös auf uns warteten. Jedoch bedrängten sie mich nicht gleich, sondern schienen einfach nur erleichtert darüber, dass es mir - zumindest körperlich - gut ging, und boten uns einen Tee an, denen Kris und ich dankend ablehnten, ehe wir weiter in mein Zimmer schlenderten.

"Das war unser allererster Auftritt, oder?" Kris begutachtete die sämtlichen Poster und Fotos an meinen Wänden und deutete mit dem Zeigefinger auf ein schon deutlich verblasstes Bild über meinen alten Schreibtisch.
"Ja, ich glaube schon", stimmte ich leicht lächelnd zu und ließ mich auf mein ungemachtes Bett nieder.
"Oh Mann, wie wir aussahen... Niels' Piercings und deine Wuschelfrisur", schwelgte er laut lachend in Erinnerungen, jedoch verstummte er abrupt, als er bemerkte, dass ich ihn lediglich still schweigend beobachtete. Er räusperte sich peinlich berührt, murmelte eine Entschuldigung und setzte sich auf den Schreibtischstuhl, mit dem er ein bisschen durch mein Zimmer rollte und sich somit die Zeit vertrieb.

"Wie geht es Johannes?", wiederholte ich meine Frage von eben, auf die ich immer noch keine Antwort bekommen hatte und auf die Kris mit dem gleichen Gesichtsausdruck reagierte, wie zuvor am See. Doch dieses Mal ließ ich ihn nicht vom Thema abkommen; ich wollte eine Antwort. Ich brauchte eine und das schien der Gitarrist ebenfalls verstanden zu haben: "Ziemlich dreckig." Er drehte sich mit dem Stuhl einmal in die eine Richtung, dann in die andere und erkannte schließlich in meinem Gesicht wohl von alleine, dass ich eine ausführlichere Antwort wollte.
"Er verreckt quasi an seinem schlechten Gewissen, wenn das Auskunft genug ist." Er zog kurz die Augenbrauen hoch, ehe er - begleitet von einem Schulterzucker - "Verdient" anschob.
Ich seufzte auf und rieb mir über meine müden Augen, die mich fast schon anflehten, endlich zu schlafen.

"Kris?" - "Hm?" Ein weiterer Seufzer entkam mir, während ich meine Beine aufs Bett zog und mich in den Schneidersitz setzte. Kris verschränkte seine Finger vor seinem Bauch und sah mich abwartend an, als er endlich damit aufgehört hatte, mit dem dämlichen Schreibtischstuhl durch mein Zimmer zu rollen oder sich im Kreis zu drehen.
"Ich will nicht, dass ihr euch zwischen Johannes und mir entscheidet. Das ist eine Sache zwischen ihm und mir und ganz egal, wer da was wie verbockt hat; wir brauchen gerade beide Freunde. Ich bin mir sicher, er ist schon bestraft genug damit, dass ich sauer auf ihn bin. Verstanden?" - "Jakob, wir haben nicht vor, ihm die Freundschaft zu kündigen. Aber er hat gewaltige Scheiße gebaut und das können wir nicht einfa–" - "Ich bin mir sicher, dass er das selber weiß. Bitte. Er brauch euch und eure Unterstützung genauso sehr wie ich."
Kris legte stöhnend seinen Kopf in den Nacken und fuhr sich durch seine dunkelblonden Haare: "Deine Loyalität sei gesegnet", murmelte er scheinbar einverstanden, was mich kurz zufrieden lächeln ließ. Trotz dessen, was mir Johannes angetan hatte, wollte ich nicht, dass er alleine dastand. Daran wäre nämlich nicht nur er zerbrochen, sondern auch unsere Band uns daran wiederum jeder einzelne von uns.

"Shit, ich muss Niels noch schreiben, dass ich dich gefunden habe", fluchte Kris plötzlich auf, nachdem wir wieder in Schweigen verfallen waren, und kramte aus seiner Hosentasche sein Handy hervor, um wild darauf herumzutippen.
"Wie eigentlich?", hakte ich nach und meine Vermutung bestätigte sich: "Deine Eltern haben Niels angerufen, nachdem du abgehauen bist. Sie wollten wissen, was wirklich los war." - "Wissen sie..." - "Nur von der Trennung; nix konkretes." Ich atmete erleichtert aus und hoffte darauf, dass meine Eltern mich auch nicht dazu zwingen würden, ihnen die komplette Wahrheit zu erzählen, solange ich das nicht wollte.

Kris schob sein Handy wieder in seine Hosentasche, stand vom Stuhl auf, den er wieder zum Schreibtisch schob, und setzte sich zu mir aufs Bett.
"Wieso ist Niels nicht selber gekommen?", fragte ich kleinlaut und Kris legte den Kopf schief: "Bin ich dir etwa nicht gut genug?" Gespielt empört stemmte er seine Fäuste in die Hüfte und verkniff sich sein Lachen, während ich nur gequält die Mundwinkel hochzog.
Der Gitarrist seufzte und lockerte seine Haltung wieder, um ernst zu werden: "Niels ist... Er ist ziemlich angespannt, seitdem wir wissen, dass du weg bist. Ich kann es nicht genau erklären, aber er ist ganz schön durch den Wind; auf so eine seltsame Art und Weise, verstehst du?" Ich schluckte den Kloß in meinem Hals hinunter und nickte stumm. Ich konnte mir vorstellen, woran es lag, und das schlechte Gewissen nagte erneut an mir. "Als dann deine Eltern angerufen haben, hab' ich gesagt, dass ich fahre. Ich war derjenige, der sich selbst noch am besten unter Kontrolle hatte." Kris zuckte ganz beiläufig mit den Schultern, während mir die ersten Tränen in den Augen brannten. Als sich die erste dann löste und über meine Wange lief, flehte er ein "Oh bitte nicht", ehe er mich in seine Arme zog und ich erneut bitterlich zu weinen begann.
"Hey, ich weiß, dass Niels ein toller Freund ist, aber so viel schlechter bin ich doch nun auch nicht, oder?" Ich lachte tatsächlich etwas auf und schüttelte mit dem Kopf, um mich im Anschluss wieder aus der Umarmung zu befreien und mir übers Gesicht zu wischen. Natürlich weinte ich nicht, weil Niels nicht da war, und das wusste Kris selbstverständlich auch. Er wollte mich einfach nur etwas aufmuntern und das gelang ihm sogar einigermaßen. Es tat gut, dass er da war; er mit seiner lockeren Art, die ihn so auszeichnete. Es ging ihm nicht nur darum, mit mir über die verkorkste Situation zu reden, sondern mich auch davon abzulenken. Und wahrscheinlich war es deswegen vielleicht sogar ganz gut, dass er und nicht Niels hier was.
"So gefällst du mir schon besser", grinste Kris stolz und schob meine Mundwinkel mit seinen Zeigefingern noch einmal nach oben.

Bis zum letzten MomentWo Geschichten leben. Entdecke jetzt