Kapitel 77

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~ Johannes' Sicht ~

Minutenlang stand ich in einer Art Schockstarre im Türrahmen zu unserem Schlafzimmer. Das einzige Anzeichen dafür, dass ich nicht versteinert war, war das zittrige Beben meines Brustkorbes im Zusammenspiel mit meinen unaufhörlich fließenden Tränen und dem ein oder anderen Schluchzer, der meiner trockenen Kehle entfleuchte. Dann plötzlich riss ich mich aus meiner Lähmung und stolperte stürmisch zur Wohnungstür, durch welche ich ins Treppenhaus eilte und die Treppe in solch einem schnellen Tempo hinter mich legte, dass ich fast das Gleichgewicht verlor. Auf dem Bürgersteig vor dem Haus angekommen, sah ich mich verzweifelt um, drehte mich einige Male langsam im Kreis und fuhr mir durch meine zerzausten Haare.
"Jakob!", brüllte ich mit brüchiger Stimme, als ich ihn nirgends erspähen konnte, und einige Passanten drehten sich irritiert zu mir um, deuteten auf mich und tuschelten, wie damals auf dem Schulhof, wenn irgendeiner sich gerade blamiert hatte. Doch das war mir in diesem Moment so egal - ich wollte Jakob sehen. Mit ihm reden. Ihn anflehen, mir zu verzeihen. Aber natürlich war er schon längst über alle Berge; wahrscheinlich wieder bei Niels, wo ich ihn bereits die letzten Tage über vermutet hatte.

Schwer schluckend schleppte ich mich zurück in unsere Wohnung, die mir plötzlich so viel leerer vorkam. Im Schlafzimmer standen die Türen von Jakobs Schrankseite immer noch sperrangelweit offen, sodass ich freie Sicht auf die vielen (halb-)leeren Fächer hatte, von denen ich mir einbildete, sie würden mich fies angrinsen. Ich hatte es kapiert; ich war ein Arschloch. "Ich weiß es", murmelte ich völlig neben der Spur, während ich mir mit meiner Hand die Tränen von den Wangen wischte. "Ich weiß es", wiederholte ich leise, doch als die Leere der Schrankhälfte mich weiterhin anzustarren schien, verlor ich die Kontrolle, griff nach einer der Schranktüren und schmetterte sie mit solch einer Wucht zu, dass sie auch aus ihren Angeln hätte fallen können. "Ich weiß es! Ich habe alles ruiniert!", schrie ich, was in einem lauten Schluchzer unterging, während ich auch die zweite Türe zuschlug und anschließend aus dem Schlafzimmer stürmte.
Ich lief im Wohnzimmer auf und ab, holte mein Handy aus meiner Hosentasche und versuchte mehrfach, Jakob zu erreichen. Immer wieder drückte ich auf den Hörer neben seinem Namen, kam zunächst durch, doch bereits nach wenigen Sekunden ertönte das schnellere Tuten, das mir signalisierte, dass er mich weggedrückt hatte. Ich versuchte es noch mal und noch einmal, nur um irgendwann festzustellen, dass er sein Handy ausgestellt hat. Ein Laut bestehend aus Verzweiflung und Trauer entkam mir, als ich mich aufs Sofa fallen ließ und mit der flachen Hand auf das Polster einschlug, als könnte es irgendetwas dafür.

Irgendwann lag ich zusammengerollt auf der Couch, während meine Finger sich in den Stoff meines Shirts krallten und ich bitterlich und krampfhaft weinte. Das letzte - und bis dato einzige - Mal, dass ich mich in solch einen Heulkrampf hineingesteigert hatte, lag nun schon einige Zeit zurück. Es war Anfang 2014 - ein paar Tage, nachdem ich von dem Baby erfuhr, das Anna nach unserer Trennung verloren hatte. Damals war Jakob an meiner Seite und päppelte mich auf - insofern ihm das in der damaligen Situation möglich war. Er gab mir jedenfalls Halt und half mir, die Zeit zu überstehen, obwohl ihn selbst unglaubliche Schuldgefühle geplagt hatten. Doch dieses Mal war er nicht da, um mich in den Arm zu nehmen.
Allerdings gab es auch einen riesigen Unterschied zu 2014: Damals hatte ich den ganzen Schmerz nicht verdient. Ich hatte mich in meinen besten Freund verliebt, wogegen ich so lang wie möglich angekämpft hatte, und es war nicht fair, dass man mir aufgrund dessen mein Kind genommen hatte, bei dem ich nicht mal die Chance hatte, es auf meinem Arm zu halten. Ich hatte nicht mal die Möglichkeit, von seiner Existenz zu erfahren, als es diese überhaupt noch gab.
Aber dieses Mal übernahm ich die volle Verantwortung für den Schmerz, den ich fühlte. Ich hatte es verbockt - ganz gewaltig. Und das wirklich schlimme an der ganzen Sache war, dass nicht nur ich litt. Vielleicht ging es Jakob sogar noch schlechter. Ich wusste auch nicht, wie ich mich jetzt verhalten sollte. Einerseits wollte ich um Jay kämpfen, ihn nicht einfach so aufgeben, aber andererseits hatte ich auch das Gefühl, ich müsste ihm Zeit und Raum geben, um über alles nachzudenken. Vielleicht würde er es sich ja sogar noch anders überlegen. Vielleicht würde er verstehen, dass ich es abgrundtief bereute und dass es eine - mehr oder minder - vernünftige Erklärung für alles gab. Dass ich ihn liebte und alles für ihn hergeben würde. Vielleicht würde doch wieder alles gut werden.
Doch die Unwahrscheinlichkeit all dieser Vielleichts traf mich nur noch zusätzlich. Es würde kein Happy End geben - zumindest ganz bestimmt nicht in greifbarer Nähe. Jakob und ich hatten eine schwierige Zeit vor uns und ausnahmsweise - das allererste Mal seit Beginn unserer Freundschaft - würden wir diese nicht zusammen durchstehen können.

Bis zum letzten MomentWo Geschichten leben. Entdecke jetzt