Kapitel 76

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~ Johannes' Sicht ~

Das ohrenbetäubend laute Knallen der Wohnungstür, die Jay hinter sich zuschmiss, war das letzte, das ich hörte, bevor alles still wurde. So unerträglich still. Er war weg und ich war allein. Theoretisch war es nicht anders als in den letzten Tagen, aber doch schmerzte es viel mehr. Er war fort und diesmal wusste ich, dass es kein Happy End geben würde. Er würde nicht in wenigen Stunden wieder auftauchen, mich zur Begrüßung küssen und stolz verkünden, dass er Pizza mitgebracht hat. Ich würde ihm nicht sagen können, dass er der Beste sei, die Pizza gemeinsam mit ihm vor der dem Fernseher verschlingen, während wir einer unserer Lieblingsserien schauten, und mich anschließend an ihn lehnen. Er würde nicht seinen Arm um mich legen, mir einen Kuss auf die Haare drücken und mit seinen Fingern kleine Kreise auf meiner Hüfte zeichnen. Ich würde nicht mit einem Lächeln im Gesicht und einen warmen Gefühl in meinem Körper genau dort - in Jays Armen - einschlafen.
Nein, er war weg und ich könnte mich glücklich schätzen, wenn er überhaupt jemals wieder ein Wort mit mir wechselt.

Er hasste mich.

Und ich konnte es ihm nicht mal verübeln. Er dachte, ich hätte uns nach nur fünf Tagen räumlicher Trennung, die uns zum Nachdenken bringen sollte, aufgegeben und ich hätte mit dieser Frau geschlafen, weil ich eh an keine Zukunft von Jakob und mir glaubte und dann lieber meinen Spaß haben wollte, anstatt mir weiter mit den ganzen Streitigkeiten auseinanderzusetzen. Doch das stimmte so nicht. Gott, ich hatte noch so viel Hoffnung in uns beiden. Und gleichzeitig hatte ich solche Angst. Mit jedem Tag, an dem Jay sich wieder nicht bei mir gemeldet hatte, stieg die Angst davor, ihn zu verlieren. Mit jedem Tag wurde es mehr Alkohol, der mir zum Opfer fiel.
Am ersten Abend war es nur ein Bier, während ich wütend auf mich selbst auf dem Sofa saß und meine eigene Dummheit nicht fassen konnte. Ich hatte das doch nicht gewollt! Ich wollte nicht mit Jay Schluss machen, das war eine Kurzschlussreaktion, weil es mich so unfassbar aufgeregt hatte, wie oft wir uns in letzter Zeit gestritten hatten.
Im Laufe der Tage wandelte die Wut sich in eine auf Jay bezogene. Dass er erstmal seine Ruhe haben wollte, konnte ich ja verstehen, aber so lange? Ohne sich auch nur noch einmal bei mir zu melden? Es machte mich wahnsinnig, nicht zu wissen, was mit uns passieren würde. Meine Wut, die Sorgen und Ängste ertrank ich in Alkohol - Whiskey, Bier, Schnaps, Wein, vollkommen egal, Hauptsache, ich konnte alles kurz vergessen. Ich liebte Jakob so sehr, dass ich nicht einmal mit dem Schmerz klar kam, fünf lächerliche Tage ohne ihn zu leben, während ich ganz genau wusste, dass er über unsere Beziehung nachdachte.

Am Freitag wurde mir dann alles zu viel. Ich fand mich schon wieder in einer Bar wieder und auf einmal war da diese Frau, die mit mir flirtete. Ich hatte kein Interesse an ihr gezeigt, doch das war ihr egal, da sie selbst schon einiges getrunken hatte. Sie hatte immer wieder Körperkontakt gesucht, mir verruchte Sachen ins Ohr gehaucht und scheinbar gar nicht realisiert, dass ich schon so betrunken war, dass ich geistig nicht mehr ganz anwesend war. Stattdessen hatte sie meine Unkonzentriertheit ausgenutzt, sich auf meinen Schoß geschwungen und mich geküsst. Ich will nicht abstreiten, dass ich die Küsse erwidert habe. Das habe ich und dazu stehe ich, aber - egal wie dumm und bescheuert es auch klingen mag; ich hatte Jay in diesem Moment so sehr vermisst, dass ich mir vorgestellt hatte, ihn zu küssen. Und als ich genau damit angefangen habe, wollte und brauchte ich diese Küsse. Sie gaben mir das Gefühl, dass der Streit zwischen Jakob und mir gar nicht existieren würde. Dass wir gerade glücklich knutschend auf unserem Sofa säßen. Hätte ich einmal mein in Zigarettenrauch und Alkohol getauchtes Gehirn eingeschaltet, hätte ich natürlich sofort kapiert, dass ich nicht Jakob küsste, sondern ihm fremdging. Nicht mal beim komplett anderem Sex wollte ich es einsehen - viel zu sehr genoss ich diese kurze Pause von den vielen belastenden Gedanken in den letzten Tagen. Die Pause von dem Vermissen. Erst als die Frau mich an einer bestimmten Stelle am Hals küsste, wurde ich unsanft in die Realität geschleudert; Jakob hätte mich dort nie geküsst - er wusste, dass diese eine Stelle ein Abturn für mich war und ich es hasste, dort geküsst zu werden. Die Erkenntnis, dass ich gerade den größten Fehler meines Lebens begangen hatte, traf mich wie ein harter Schlag in die Magengrube. Ich löste mich abrupt von der Frau, befreite mich von ihren Beinen, die meine Mitte umschlangen, stellte sie unsanft zurück auf den Boden, taumelte zwei kleine Schritte zurück, bis ich die Wand der Toilettenkabine in meinem Rücken spürte, und kotzte der Blondine auf ihre billigen High Heels.

Sie hat mich angeschrien - minutenlang - und gefordert, ihr die Schuhe zu ersetzen. Sie hat mich mit diversen Beleidigungen beschimpft, von denen ich die meisten bereits wieder vergessen habe, während sie sich ihr kurzes Kleid wieder zurecht zupfte und ich plump zu Boden sackte, um mich noch einmal über der Toilette zu übergeben, bis die Frau irgendwann barfuß und wutentbrannt verschwand.
Und so hockte ich über einer halben Stunde alleine in dieser Kabine einer Frauentoilette in irgendeiner Bar - mit Tränen, die mir über die Wangen liefen, mit immer noch hinabgelassener Hose, den rechten Ellenbogen auf der Klobrille abgestützt und dem Geschmack von Alkohol und Galle in meinem Mund, während ich noch mehrfach erbrach, bis nichts - außer dem schlechten Gewissen - in mir übrig blieb.

Bis zum letzten MomentWo Geschichten leben. Entdecke jetzt