Kapitel 86

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"Also. Irgendwelche Geheimtipps?", fragte Kris mich, als wir in St. Georg - dem Schwulenviertel Hamburgs - angekommen waren, er sich zu mir umdrehte und einen erwartungsvollen Gesichtsausdruck auflegte. Ich sah mich um, zuckte schließlich jedoch einfach mit meinen Schultern: "Keine Ahnung." Mein Kumpel starrte mich kurz irritiert an, bis ihm die Kinnlade 'runterklappte: "Versteh' ich das richtig? Bevor Johannes vögelst du dich durch die halbe Frauenwelt, aber er ist der einzige Mann mit dem du geschlafen hast?" - "Mit wie vielen Männern hast du denn bereits geschlafen, du Experte?", antwortete ich pampig, was Kris' Vermutung nur zu bestätigen schien.

"Ich bin ja auch nicht schwul oder bi. Es wird Zeit, dass du mal ein bisschen 'rumkommst." Er packte mich am Arm und zerrte mich hinter sich her, ehe er sich nach einem strengen Ausschlussverfahren für eine Schwulenbar entschieden hatte. Ihm kostete es sichtlich Überwindung, reinzugehen, und wenn ich ehrlich bin, fühlte ich mich auch nicht all zu wohl dabei. Auch wenn die Trennung von Johannes und mir schon fast ein halbes Jahr her war und er es war, der fremdgegangen ist, hatte ich ihm gegenüber ein schlechtes Gewissen. Ich war nicht bereit dazu, etwas Festes mit einem neuen Mann anzufangen, und ich war mir sicher, dass Johannes nicht bereit dazu war, mich mit einem neuen Mann zu sehen.

Kris und ich setzten uns an eine der Theken, von der man eine gute Übersicht über den ganzen Laden hatte. "Mann, die scheinen hier alle ganz schön locker zu sein", murmelte Kris, während er ein paar wildrummachende Typen beobachtete. "Ich will ja nichts sagen, aber hoffentlich werden nicht alle Männer eher mich anflirten." Selbstgefällig grinste er und obwohl ich wusste, dass er lediglich meine Stimmung endlich aufbessern wollte, rollte ich bloß mit den Augen: "Spätestens, wenn dich einer anspricht, bist doch über alle Berge." - "Auch wieder wahr."
Kris gab die ersten Runden aus, die allesamt aus hochprozentigem Schnaps bestanden und mich somit nun doch etwas lockerer werden ließen. Wir begannen, Männer auf einer Skala von eins bis zehn zu bewerten, lachten, während wir darüber diskutierten, mit welchem Aufreißerspruch ich jemanden anflirten könnte, und ich lachte noch lauter, als Kris einen dämlichen Macho-Spruch nach dem nächsten vorschlug.

Doch ich blieb auf meinem Platz und ging auf keinen der vielen Männer zu, die größtenteils alle sehr nett und anständig wirkten; ich war aber einfach viel zu unsicher. Kris' Plan schien also gescheitert, was er irgendwann wohl selbst einsah: "Okay, ich geh' noch mal schnell für kleine Heteros und dann fahren wir wieder. In Ordnung?" Ich lachte auf und nickte: "Ein Versuch war es jedenfalls wert." Er klopfte mir auf die Schulter und schob sich von seinen Barhocker.

Gerade, als Kris verschwunden war, tippte mir jemand auf den Rücken. Ich schreckte um und sah einen jungen Mann mit blonden Haaren und kleinen Grübchen vor mir stehen: "Hi", begrüßte er mich fröhlich, worauf ich leicht verwirrt das Gesicht verzog und er mir urplötzlich seine Hand ausstreckte: "Ich bin Rick!" Ich starrte für einen kurzen Moment auf seine Hand, ergriff diese schließlich und brachte ein zögerliches "Jakob" hervor. Das Lächeln des Mannes, der einige Jahre jünger wirkte als ich, wurde größer und er kratzte sich verlegen am Hinterkopf:
"Ich ehm... Denk nicht, ich hätte euch belauscht oder so, aber..." Er blickte nochmal kurz in die Richtung, in die Kris verschwunden war, bevor er zu den Toiletten deutete: "Hab' ich das richtig verstanden, dass er nicht dein Freund ist?"
Ich runzelte irritiert die Stirn, ehe ich zu verstehen begann: "Was? Kris?" So gerne ich mir das Lachen verkniffen hätte; es ging einfach nicht. Erst als Rick seine Augenbrauen hochzog, räusperte ich mich und fuhr mir durch die Haare: "Nein, Kris ist seit über siebzehn Jahren mehr als glücklich mit einer Frau zusammen und mittlerweile auch verheiratet. Er hat sich heute nur für mich aufgeopfert." - "Gut zu wissen." Ein sanftes Lächeln schlich sich auf Ricks Gesichtszüge, die insgesamt sehr weich aussahen. Er wirkte auf nur von seinem Auftreten und den paar wenigen Sätzen, die wir miteinander gewechselt hatten, wie ein herzensguter Mensch.

"Dein erster Besuch in so einer Bar?" Rick setzte den Begriff mit seinen Fingern in Anführungszeichen und ich spürte, wie mir das Blut in die Wangen schoss: "Ist das so offensichtlich?"
Er lachte auf, doch es war kein gehässiges Lachen:
"Ja, irgendwie schon."
Ich kratzte mich verlegen am Hinterkopf und atmete tief durch, bevor Rick urplötzlich seine Hand an meinen Oberarm legte: "Hey, ist doch halb so wild. Ich find's süß. Möchtest du was trinken? Einen Cocktail vielleicht?" - "Gern." Er nickte und verschwand zu der Theke am anderen Ende des Clubs, wo für Cocktails gesorgt wurde, während ich auf meinem Platz blieb und wartete.

"So, ich wäre dann soweit. Wir können los." Kris tauchte plötzlich neben mir auf und ich sah unsicher zwischen ihm und dem weit entfernt stehenden Rick hin und her: "Ich ehm..."
Ich stockte und ließ die vergangene Minute skeptisch Revue passieren. Was war denn bloß los mit mir? Ich war früher ein richtiger Aufreißer, wenn man es so nennen will, und jetzt - wo ich nach langer Zeit wieder Single war - bekam ich es nicht auf die Kette, zumindest einen Hauch Selbstbewusstsein auszustrahlen und benahm mich wie ein Teenager bei seinem ersten, kläglichen Flirtversuch. Ich konnte es besser und ich wollte es mir selbst beweisen.
"Geh du ruhig. Ich hab' da was in Aussicht." - "Achso?" Kris wackelte grinsend mit den Augenbrauen, ich drückte ihm seine Jacke in die Hand und schubste ihn lachend sanft Richtung Ausgang: "Hau schon ab."

Bis zum letzten MomentWo Geschichten leben. Entdecke jetzt