Kapitel 49

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Die Fahrt zum Proberaum bestand aus reinstem Schweigen; ich konzentrierte mich auf die Straße und verbannte die Gedanken an meinen Bruder in die hinterste Ecke meines Kopfes, während Johannes neben mir auf dem Beifahrersitz saß und mich unentwegt anstarrte. Ohne ihn anzusehen, spürte ich die Sorge in seinem Blick, doch ich ignorierte es. Es gab nichts, worüber ich in diesem Moment mit ihm diskutieren wollte - ich wollte das alles mit mir selbst ausmachen. Mit niemand anderem.

"Schreibst du den Jungs, dass wir etwas zu spät kommen?", fragte ich also übertrieben beiläufig, als Johannes Luft holte, um irgendetwas zu sagen, und ließ ihn somit gar nicht erst die Chance, meinen Therapeuten zu spielen. Im Augenwinkel erkannte ich ein leichtes Nicken und die Enttäuschung, welche in seinem mich durchbohrendem Blick lag. Ich wehrte mich, darauf einzugehen, und so blieb es still im Auto. Der ganze restliche Weg über war von bedrückender Stille begleitet und wenn ich ehrlich bin, war diese Tatsache noch viel quälender, als es ein ernstes Gespräch wahrscheinlich gewesen wäre.

Wir erreichten mit gut einer Viertelstunde Verspätung unseren Proberaum, doch gerade als ich aussteigen wollte und meine Autotür schon aufgeschwungen hatte, griff Johannes nach meinem Arm: "Rede mit mir. Bitte." Stirnrunzelnd sah ich ihn an und so fuhr er fort: "Friss es nicht in dich rein, sondern rede mit mir." Ich richtete meinen Blick von ihm ab und betrachtete das kahle Gebäude, welches sich vor meinem Auto in die Höhe erstreckte.
Tausend Worte schwirrten in meinem Kopf, wollten ausgespuckt und beachtet werden, doch mein Mund blieb geschlossen. Ich sträubte mich gegen den Drang, all meinen Frust, meine Trauer und meine Wut auszusprechen und daraufhin die passenden beruhigenden Sätze zu hören, die mich vielleicht sogar besser fühlen gelassen hätten. Ich hoffte, dass das Totschweigen mir helfen würde, den vergangenen Abend ungeschehen - oder wenigstens vergessen - zu machen. So legte ich also ein sanftes Lächeln auf, wandte mich wieder meinem besorgten Freund zu und sprach mit fester Stimme: "Es geht mir gut. Ehrlich." Und damit stieg ich aus dem Auto. Ich bekam noch mit, wie Johannes es mir gleichtat und ich hörte ihn verzweifelt seufzen, doch da war ich schon im Gebäude und auf dem Weg zum Proberaum.

"Verschlafen?" war Kris' Begrüßung, welche er mit einem schiefen Grinsen unterlegte, als ich den Raum betrat und ein knappes "Moin" in die Runde rief. "Guck ihn dir mal an; so wie er aussieht, könnte man denken, er hätte letzte Nacht nicht ein Auge zu bekommen." - "Na, woran das liegt, wollen wir gar nicht erst wissen", scherzte Chris auf Niels' Bemerkung hin. "Das wollt ihr wirklich nicht", murmelte Johannes, der nun auch in der Tür stand und auf dem von der einen auf die andere Sekunde alle Blicke hefteten. Ich wandte mich ab, entledigte mich mir meiner Jacke und setzte mich an mein Schlagzeug, als wäre es das normalste auf der Welt, dass Johannes mit blauem Auge, leicht angeschwollenem Gesicht und einer zerknautschten Nase durch die Gegend rennt.

"Scheiße, was ist denn mit dir passiert?" Arne war es, der sich als erster aus der Schockstarre lösen konnte. Johannes sah unsicher zu mir 'rüber, als wüsste er nicht, was er sagen sollte; die Wahrheit oder irgendeine dämliche Lüge, die uns vor einer Menge Fragen bewahren würde. Die Restlichen folgten seinem Beispiel und so wurde ich von allen Anwesenden verwirrt angestarrt, doch ich zuckte bloß mit den Schultern: "Wir haben uns vor meiner Familie geoutet und mein Bruder fand das ganze wohl eher nicht so witzig." Ungläubiges Schweigen breitete sich im Raum aus, während Johannes kaum merkbar und besorgt über mein gleichgültiges Verhalten mit dem Kopf schüttelte. "Johannes meint aber, dass es ihm gut geht und er spielen kann. Also können wir loslegen." Die Jungs tauschten irritierte Blicke aus, sahen hilflos zu Jo, doch er selbst war heillos überfordert und straffte bloß seine Schultern. "Schön und gut, wenn es ihm soweit ganz gut geht, aber...Was ist mit dir?", fragte Kris behutsam in meine Richtung. "Was soll mit mir sein?" Meine Fingernägel bohrten sich in den Stoff meiner Hose und ich spürte einen immer größer werdenden Schmerz, der sich in meinem Oberschenkel breit machte, während ich lächelte und innerlich jeden anflehte, es nun endlich sein zu lassen und mit der Probe anzufangen.

Es dauerte noch einige Sekunden, bis Niels sich schließlich räusperte und mich nochmal kurz unsicher musterte: "Also gut", murmelte er und griff nach seiner Gitarre. Nach und nach begaben sich auch die anderen an ihre Instrumente und meine verkrampften Muskeln entspannten sich langsam wieder. Ich atmete tief durch, versuchte allerdings mein selbstbewusstes Auftreten beizubehalten, sodass sich das Lächeln in meinem Gesicht schon fast wie eingebrannt anfühlte.

Es war eine seltsame Probe - die Stimmung war bedrückt, kaum einer sprach zwischen den einzelnen Songs und wirklich konzentriert bei der Sache, schien auch niemand zu sein. In den nächsten Tagen änderte sich auch nichts wirklich daran und ich wusste ganz genau, dass ich Schuld daran war. An einfach allem. Doch das Lächeln auf meinen Lippen saß. Es saß perfekt und bei jedem Blick in den Spiegel kaufte ich es mir selbst ein Stückchen mehr ab.
Johannes versuchte noch oft, mit mir zu reden, irgendwelche Gefühle aus mir rauszukitzeln, aber ich verweigerte mir sämtliche Emotionen und so blieb es eigentlich immer bei einem "Es ist alles in Ordnung", woraufhin ich ihn im Anschluss küsste und es meistens damit endetet, dass wir im Bett landeten. Er wusste, dass das nicht aus purer Leidenschaft geschah, sondern aus dem Wunsch, alles andere zu vergessen. Mir war auch bewusst, dass er diese Art und Weise keineswegs für gut befand, und dass er einen ehrlichen Gefühlsausbruch besser gefunden hätte, doch er gab sich der Sache hin. Aus Liebe zu mir und in der Hoffnung, es würde mir tatsächlich irgendwie helfen.

Bis zum letzten MomentWo Geschichten leben. Entdecke jetzt