Kapitel 105

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Rick lag friedlich schlafend auf dem Bauch neben mir in seinem Bett, sein Gesicht war zu mir gedreht, seine Augenlider flackerten ein wenig, als ob er gerade träumen würde. Meine Hand glitt sanft über seinen Rücken, strich über seine Wirbelknochen und wieder zurück. Seine Haut war von zahlreichen winzigen Muttermalen versehen, die stellenweise wie Sommersprossen wirkten und zwischen denen ich fast immer, nachdem Rick und ich miteinander geschlafen hatten, mit meinem Finger wie beim Malen nach Zahlen langfuhr und mir dabei vorstellte, wie meine Fingerkuppe dabei einen dünnen Strich hinter sich her zog, bis ein Muster entstand.

Seufzend und darauf bedacht, Rick nicht zu wecken, setzte ich mich schließlich auf und schwang die Beine aus dem Bett. Mein Blick schweifte zum Fenster hinaus, wo die Sonne schon längst über den Gebäuden Hamburgs aufgegangen war und deren Dächer beleuchtete.
Das schlechte Gewissen nagte an mir, jedoch nicht, weil ich letzte Nacht mit meinem Ex regelrecht 'rumgemacht habe, fast mit ihm geschlafen hätte und das alles, während mein Freund, der gerade leise schnarchend neben mir lag, nur wenige Meter entfernt gewesen ist, sondern weil ich genau das eben nicht bereute. Wieso verspürte ich nicht einen Funken Reue? Ich mochte Rick doch. Ich mochte ihn sogar sehr, war froh, dass ich ihn kannte, aber es tat mir nicht einmal leid, dass ich ihn zumindest auf Kuss-Ebene betrogen hatte.

Erneut seufzend stand ich auf, sammelte meine Boxershorts, die auf dem Boden lag, auf und schnappte mir auch meine restlichen Klamotten, ehe ich leise ins Badezimmer tapste. Abgesehen von leichten Kopfschmerzen, verspürte ich keinen Kater, den ich - bei der Menge an Alkohol am Vorabend - eigentlich erwartet hätte.
Ich sprang unter die Dusche, schlüpfte in meine Kleidung und lugte anschließend noch einmal ins Schlafzimmer, wo Rick immer noch tief und fest schlief, bevor ich leise seine Wohnung verließ und den Weg zur nächsten U-Bahnstation einschlug.

"Jakob." Johannes klang überrascht, doch er versuchte, einen möglichst gelassenen Gesichtsausdruck aufzulegen, als er mir die Tür öffnete. Er sah müde aus, als hätte ich ihn aus dem Bett geklingelt. "Willst du 'reinkommen?"
Ich nickte und schob mich im nächsten Augenblick schon an ihm vorbei in seine Wohnung, in der ich bisher nie alleine mit Jo gewesen bin. Normalerweise war ich hier nur mit den anderen Jungs. Johannes ist einige Wochen nach unserer Trennung hier her gezogen; unsere alte gemeinsame Wohnung war viel zu groß und zu teuer für eine einzelne Person und wahrscheinlich erinnerte sie Johannes viel zu sehr daran, was er aufs Spiel gesetzt und verloren hatte.

"Möchtest du etwas trinken?", bot er mir an, als ich von alleine in sein Wohnzimmer gesteuert bin und mich dort auf sein Sofa hab' fallen lassen.
"Nein, danke. Ich möchte nicht lange bleiben. Ich wollte nur kurz reden." - "Über was denn?" Ganz einen auf unschuldig machend zog Johannes abwartend die Augenbrauen hoch, wovon ich mich jedoch nicht beirren ließ und trocken mit "Über gestern" antwortete.
Er schien nun doch etwas nervös, räusperte sich und setzte sich auf die andere Seite des Sofas, das er auch neu gekauft hatte. Ich konnte nicht einschätzen, ob ihm seine Aktion von letzter Nacht nun selbst etwas peinlich war oder ob er darüber stand und jetzt immer noch genauso handeln würde. Ich für meinen Teil war einfach nur wütend auf ihn.

"Nach all dem, was zwischen uns vorgefallen ist, denkst du wirklich, ich könnte einfach so wieder mit dir schlafen? Auch noch während ich einen neuen Freund habe?!", platzte ich direkt mit der Tür ins Haus.
"Den du nicht liebst, wenn du auch jetzt im nüchternen Zustand ehrlich zu dir selbst bist." - "Sei nicht so eingebildet, Johannes", zischte ich, um sein Ego etwas zu dämpfen, das sowieso felsenfest davon überzeugt war, dass ich niemand anderen lieben konnte, außer ihn. Natürlich stimmte das, aber das musste ich ihm ja nicht auch noch unter die Nase reiben.
"Wieso? Immerhin hast du letzte Nacht auch keinen einzigen Gedanken an ihn verschwendet, als du mir den Gürtel öffnen wolltest." Provokation stand Johannes ganz und gar nicht, doch ich konnte genauso zurückschlagen, wenn er es so wollte: "Dabei gibst du gerade zu, dass du mich auch nicht geliebt hast. Immerhin konntest du mit einer dahergelaufenen Tussi auf dem Klo einer siffigen Bar vögeln." Das hatte gesessen. Der provozierende Blick wich von Johannes' Gesicht und machte Platz für Verletzlichkeit, die nach wenigen Sekunden in Enttäuschung und Wut umschwang: "Ich hab' 'ne Menge Scheiße gebaut, das ist mir bewusst. Aber zu behaupten, ich hätte dich nicht geliebt, ist der größte Schwachsinn und das weißt du am allerbesten!"
Verächtlich schnaubend schüttelte ich mit dem Kopf und wandte meinen Blick von Johannes ab. Er verstand es nicht. Er verstand nicht, was er mir mit seinem Seitensprung angetan hatte. Welche Gedanken und Gefühle er damit ausgelöst hatte.

Wütend stand ich auf und suchte erneut den Augenkontakt mit meinem Ex: "Es bringt nichts, mit dir zu diskutieren. Ich wollte dir lediglich sagen, dass du mit deinen Spielchen aufhören sollst, bevor du damit richtig anfängst. Lass mich doch einfach über dich hinwegkommen." Ich ließ meine Stimme am Ende etwas weicher und flehender klingen. Johannes sollte verstehen, wie ernst es mir war, doch als ich keine Antwort erhielt, seufzte ich und steuerte aus dem Wohnzimmer hinaus, Richtung Wohnungstür.
Als ich diese gerade erst einen Spalt breit geöffnet hatte, tauchte Jo urplötzlich hinter mir auf und drückte die Tür energisch wieder zu. Ich drehte mich zu ihm um, während seine Hand immer noch neben meinem Kopf gegen die Tür gedrückt war, er seine zweite Hand auf der anderen Seite meines Kopfes an der Flurwand platzierte und es mir somit unmöglich machte, zu verschwinden. Seine Augen sahen mich so ernst an, dass es mir das Blut in den Adern gefrieren ließ.

"Ich habe dich geliebt, Jakob", begann er, wobei er viel mehr energisch und wütend als romantisch klang. "Ich habe dich geliebt, vergöttert, begehrt. Jedes Mal, wenn ich dich angesehen habe, konnte ich nicht anders, als zu lächeln. Ich hätte dich am liebsten jedes Mal direkt geküsst, dir die Klamotten vom Leibe gerissen oder dich einfach nur in den Arm genommen, um deine Nähe zu spüren. Und Gott, Jakob! Du wagst es, das alles anzuzweifeln? Wegen eines Fehlers? Es war ein riesiger Fehler, das weiß ich selbst. Aber es hatte verdammt nochmal nichts mit meinen Gefühlen für dich zu tun!" Er schrie schon fast und ich wusste nicht, wie ich reagieren sollte, während seine Arme mir jeglichen Fluchtweg versperrten.
"Wieso erzählst du mir das jetzt, Jo? Das Thema ist durch." - "Nein", schüttelte er mit dem Kopf. "Nein, das Thema ist noch längst nicht durch und genau da ist ja das Problem, das gar keines wäre, wenn wir es nicht zu einem machen würden! Ich liebe dich immer noch und das so sehr, dass es wehtut, wenn du auch nur im selben Raum bist wie ich. Es tut weh, weil ich weiß, dass ich dich nicht berühren kann. Wir können nicht einmal ein vernünftiges Gespräch führen, ohne dass irgendetwas zwischen uns liegt - ganz egal, ob wir uns versuchen, etwas anderes einzureden. Wir gehören zusammen, Jay, und das weißt du vielleicht sogar noch besser als ich. Du musst es nur wollen."
Mein Blick sprang zwischen Johannes' intensiv wirkenden Augen hin und her. Meine Knie zitterten, seine Worte waren das, auf das ich seit Monaten wartete.
"Ich will ja", flüsterte ich dann plötzlich ungewollt, was mich selbst erschrocken zusammenfahren ließ. Mein ganzer Körper fühlte sich so unglaublich schwach an.
"Beweis es mir", hauchte Johannes ein letztes Mal fordernd, bevor seine Hände blitzschnell an meinen Wangen lagen und seine Lippen sich gierig auf meine drückten. Machtlos und instinktiv griffen meine zitternden Finger nach dem Saum von Johannes' Shirt, zogen ihm dieses ruckartig über den Kopf, was unseren Kuss allerdings nur für einen Zehntel einer Sekunde unterbrach, und fuhren anschließend über Jos nackten Rücken hinunter zu seiner Jeans.

Bis zum letzten MomentWo Geschichten leben. Entdecke jetzt