♦ Emily ♦
Apathisch schrecke ich auf, mein Kopf ist schwer, mein Nacken schmerzt und ich schließe meine Augen sofort wieder, als ich direkt in die toten Augen von Jesus sehe. Ich weiß nicht wie lange ich schon hier bin. Jegliches Zeitgefühl hat sich von mir verabschiedet. Ich bin durstig, ich muss mich seit einer gefühlten Ewigkeit erleichtern und bin verdammt müde. Doch jedes Mal wenn ich einnicke, wache ich durch meine Albträume gleich wieder auf. Nur um festzustellen, dass ich mich mittendrin in diesem Traum befinde und ihm nicht entfliehen kann. Es wirkt aussichtslos. Es ertönen keine Schritte im Gang. Es ist gespenstig still. Nur das Tropfen eines Rohres am anderen Eck des Zimmers bricht die Stille und lässt mich schier verrückt werden. Immer wieder geht ein Tropfen hinunter, landet auf einem Blech. Alle dreiundvierzig Sekunden. Die Lampe wiederrum fackelt alle zweiundzwanzig Sekunden.
Meiner Zeitrechnung nach zu urteilen und dem Geruch der beiden Leichen, der sich so langsam entwickelt, müsste ich nun über vierundzwanzig Stunden hier sein. Doch natürlich kann ich mich auch irren. Irgendwo habe ich mal gelesen, dass der Verwesungszustand bei jedem Menschen von unterschiedlicher Dauer ist. Somit könnten es auch schon Tage sein, oder eben erst ein paar Stunden.Letztlich ist es mir egal. Ich habe mich mittlerweile damit abgefunden, dass ich hier unten elendig krepieren werde. Sonst hätte irgendwer nach mir gesehen. Oder hätte die Leichen weggeschafft.
Tränen sind keine mehr übrig. Das ist auch schon ziemlich lange her. Zwar kommt es vor, dass mich in regelmäßigen Abständen Panikattacken überrollen, aber das schiebe ich auf meine Müdigkeit. Und darauf, dass ich mittlerweile fast dehydriert sein muss. Mir ist furchtbar heiß, auch wenn es hier eigentlich kalt und feucht ist. Schweiß rinnt mir ununterbrochen über meine Stirn. Meine Klamotten sind durchgeweicht und fangen an zu stinken. Auch wenn das natürlich neben dem süßlichen Duft der Leichen mein geringstes Problem ist. Genauso wie ich immer noch wie ein umgefallener Käfer an meinem Stuhl festgebunden bin und auf die Seite gekippt auf dem Boden liege. Mein linkes Bein und mein linker Arm sind taub und wenn ich mir Gedanken darüber machen müsste, was Morgen ist, dann hätte ich bestimmt einen steifen Nacken. Mal abgesehen von der psychischen Folter, die ich in diesem Loch ertragen muss. Die mich auseinanderreißt und eine Wahnsinne ausspuckt. Denn ich bin mir sicher, dass es nicht mehr lange dauern wird, bis ich vollkommen durchdrehe. Schreien kann ich auch nicht mehr. Zu trocken, zu kratzig fühlt sich mein Hals an, nachdem ich die ersten beiden Stunden ununterbrochen versucht habe, mir irgendwo Gehör zu verschaffen.
Ich habe mich immer gern mit der menschlichen Psyche befasst. Ich fand das immer faszinierend, wie unterschiedlich die Charaktere der Menschen sind und wie jeder mit seiner Vergangenheit anders umgeht. Oder wie verschiedene Erlebnisse einen beeinflussen können. Das Gehirn, der einzige, noch nicht ganz erforschte Teil des menschlichen Körpers. Der so viele Abgründe, so viel Tiefe birgt, dass wir das nur erahnen können. Es wäre mir nie auszumalen gewesen, wie schnell es geht bis sich dieser Teil von einem umformt. Wie viele kleine, sonst nicht sichtbare Dinge es gibt, die einen verändern, verrückt machen. Es sind nicht die körperlichen Schmerzen, die einen in die Knie zwingen, sobald man sich einem so aussichtslosen Schicksal wie meinem stellen muss. Es ist nur die Psyche, die einen in regelmäßigen Abständen etwas vorgaukelt. Man hört Dinge, die nicht da sind. Man sieht Dinge, die nicht real sein können. Und man spürt Dinge, die eine reine Einbildung darstellen. Der Zusammenhang all dieser Komponenten führt zu einem andauernden Schockzustand, bis man letztlich bricht. Man fällt innerlich auseinander und es bleibt nichts übrig, als der pure Überlebenswille. Sobald man diesen Punkt überwunden hat, ist man glaube ich zu allem fähig. Deswegen ist jeder noch so liebreizende Mensch in der Lage zu töten. Das ist unser Instinkt. Und ich frage mich unentwegt, was diese beiden Männer für einen Hintergrund gehabt haben müssen, dass sie zu solch herzlosen Monstern wurden. Jesus war bereit alles zu tun. Für seinen Boss, vielleicht war er auch einfach nur ein Sadist. Aber ihm war es egal, dass er gefoltert und getötet hat. Es war ihm egal, dass er sterben wird. In dem Moment, als es geschah, konnte ich es noch nicht verstehen.

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Afraid of you
Mystère / ThrillerKolumbien. Gefangen bei einem der einflussreichsten Männer des Landes. Und es gibt kein Entkommen. "Auch er sieht mir direkt in die Augen. Er verzieht keine Miene. Kalt, wie die Farbe seiner Augen. Hart, wie die Muskeln an seinem Körper...