♦ Emily♦
Ich fühle mich unwohl wie ewig nicht mehr. Wahrscheinlich habe ich mich mein ganzes Leben noch niemals so unwohl gefühlt – was bei den letzten paar Monaten wirklich etwas bedeutet. Mir ist schlecht, mein Magen krampft sich in stetigem Rhythmus zusammen und signalisiert mir damit, dass ich nicht hier sein möchte. Meine Arme überzieht eine Gänsehaut, wann immer ich den Blick von Bens Bruder auf meinem spüre, oder wenn er mich gespielt versehentlich berührt. Mein erster Instinkt bei diesem Mann hat mich nicht getäuscht. Ihn umgibt etwas, was mir absolut nicht gefällt. Objektiv betrachtet ist er ein stattlicher Mann, mit Größe, Muskelmasse und Haltung. Aber alles was ihn umgibt, macht ihn zu dem am meisten Furcht einflößenden Mann, dem ich je begegnet bin – was bei den letzten paar Monaten wirklich etwas bedeutet. Ben wirkt neben ihm geradezu wie ein unschuldiges Lämmchen.
Seitdem wir das Wohnzimmer betreten haben, sitze ich in die Ecke gequetscht auf der Couch, auf die Santos mich dirigiert hat, und starre ins Leere. Essen kann ich nichts. Ich höre noch nicht einmal wirklich, worüber sich die beiden unterhalten. In meinem Kopf herrscht nur ein dumpfes Hämmern, das sich eingestellt hat um nicht absolut durchzudrehen. Es ist nicht so, dass ich nicht versucht hätte, das ein oder andere Mal aufzustehen und von hier zu verschwinden, doch wann immer ich es tat, gab mir Santos mit einer unmissverständlichen Geste zu verstehen, dass ich das nicht tun sollte. Bens Ignoranz hat mich bekräftigt auf diesen Gänsehaut-auslösenden Kerl zu hören. Er macht mir Angst. So richtig Angst. Und das, obwohl ich mittlerweile gut mit Angst umzugehen weiß, ich ihre teuflischen Schreie und ihre giftigen Dornen kenne, bin ich noch nicht immun dagegen. Nicht gegen diese Art von Angst, die mich einschließt und mir ihr niederträchtiges Gesicht zeigt. Sie hält mich gefangen. Katapultiert mich in eine Art Trancezustand, der es verhindert, mich hysterisch werden zu lassen.
Durch einen Nebel hindurch blicke ich zu Carlos, der kurz nach uns das Wohnzimmer betreten hat und wie ein Fels in der Brandung an der Tür steht, Santos fixiert und dabei noch kein einziges Mal geblinzelt hat. Auch auf meine Hilfesuchende Miene hat er nichts erwidert. Selbst Maria wirkt in der Anwesenheit dieser Männer unglaublich befangen. Seitdem sie Peewee nach oben gebracht hat, hält sie ihre Augen gen Boden gerichtet und serviert kommentarlos Speisen und Getränke. Einzig das ein oder andere beruhigend wirkende Blinzeln schenkt sie mir, wann immer sie gerade nicht beobachtet wird. Ich weiß nicht was hier gespielt wird. Ich will es auch gar nicht wissen. Die Atmosphäre ist eiskalt, fröstelnd, was nichts mit der Klimaanlage zu tun hat. Vielleicht ist es Bens Distanziertheit, die meinen Körper in einen Zustand versetzt, als säße ich gerade in einer Kühltruhe. Sein Verhalten verletzt mich. Es verletzt mich nach letzter Nacht mehr, als ich es mir eingestehen möchte. Ich war dumm genug zu glauben, dass sich etwas zwischen uns abgespielt hätte – etwas, das tiefer geht als reine Leidenschaft zwischen Mann und Frau.
Was mich jedoch am meisten schockiert ist, dass er mich ausliefert. Das erste Mal, seitdem ich hier bin, gibt er mir das Gefühl vollkommen alleine in dieser Welt zurückgelassen zu werden. Eine Welt, in die er mich geschubst hat, und mit der ich in meinen kühnsten Träumen nicht gerechnet hätte.
Wenn ich an die Situation im Club zurückdenke, als dieser widerwärtige Kerl mich mit seinen Blicken ausgezogen, mich berührt hat und Bens Reaktion darauf, dann verstehe ich das alles hier noch weniger. Wieso, zum Teufel, lässt er diesen Mann tun was er möchte, wenn er zuvor wie ein wildgewordenes Tier jeden Kerl ermorden wollte, der mir zu nahekam? Fast scheint es so, als hätte er Respekt vor seinem angeblichen Bruder – was in meinem Kopf verrückter klingt, als es sein sollte. Ben war für mich der Inbegriff an Stabilität, an Stärke, Kraft, Macht. Und nun? Nun zieht er den Kopf ein und bringt mich dazu aus meiner Haut fahren zu wollen. Alleine Santos warmer Atem verursacht mir Übelkeit.

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Afraid of you
Misteri / ThrillerKolumbien. Gefangen bei einem der einflussreichsten Männer des Landes. Und es gibt kein Entkommen. "Auch er sieht mir direkt in die Augen. Er verzieht keine Miene. Kalt, wie die Farbe seiner Augen. Hart, wie die Muskeln an seinem Körper...