♦ Emily ♦
Kurz verliere ich meinen Fokus, als seine Hand sich in meinen Rücken krallt, doch ich schaffe es irgendwie die Bewegung mit all meiner Kraft, die ich zur Verfügung habe, auszuführen. Meine Handflächen knallen beidseitig auf Santos' Ohren. Schweiß perlt meine Stirn hinab. Die Sekunden vergehen wie in Zeitlupe.
Durch das laute Klopfen meines Herzschlags hindurch, höre ich wie er schreit. Wie er dumpf auf dem Boden aufknallt. Ehe ich einen klaren Gedanken fassen kann, nehme ich meine Beine in die Hand und renne bis zu dem Bodentiefen Fenster am Ende des Zimmers. Mit zittrigen Fingern rüttele ich an dem Griff, der sich natürlich nicht öffnen lässt. Mir ist schwindelig. Ich habe Angst wie nie zuvor in meinem Leben. Aber mein Überlebenswille hat das Kommando über meinen Körper übernommen.
Ich kann nur dabei zusehen, wie ich nach dem Stoff des Vorhangs greife, kann nur denken, dass es viel zu laut sein wird, bevor ich den Zipfel der Gardine um meinen Arm schlinge und meinen Ellenbogen gegen das Glas brettere. Einmal, zweimal, dreimal, bis es nachgibt und in ohrenbetäubender Lautstärke zerschellt. Hastig quetsche ich mich durch das Loch, bleibe mit dem Fuß irgendwo hängen und schlage bäuchlings auf der nassen Erde auf. Ich wage einen kurzen Blick über meine Schulter, nachdem ich mich aufgerappelt habe und sehe, wie Santos gerade wackelig aufsteht. Vermutlich habe ich ihn nicht so getroffen, wie es sich für einen ordentlichen Ohrenpressschlag gehört, allerdings war das Zielen im Training mit Carlos immer einfacher.
Ziellos sprinte ich los. Ich laufe um mein Leben, weg von einem Monster, das mich töten wird, sollte er mich in seine Finger kriegen. Davon bin ich überzeugt.
Mir bleibt keine Zeit mich weiter umzusehen. Von hinten höre ich bereits aufgeregte Stimmen, Geschrei. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als durch den schlammigen Garten direkt in den dunklen Wald hineinzulaufen. Mein Verstand sagt mir, dass dies die beste Möglichkeit zur Flucht ist. Leichter Nieselregen versprüht sich auf meiner Haut, kalter Wind trocknet meine Tränen und meine Füße finden kaum Halt auf dem durchnässten Boden. Glücklicherweise liegt hier kein Schnee. Mit meinem aufgerissenen Shirt, der einfachen Jeans und meinen Stoffturnschuhen, würde ich nicht lange durchhalten. Selbst wenn ich trotz dem Adrenalin, das durch meine Venen pumpt, die Kälte bis in die Knochen spüren kann. Auch ohne Schnee liegt die Temperatur höchstens ein paar Grad über Null.
Blind renne ich durch das verwilderte Unterholz des Waldes. Ich bleibe an dicken Baumwurzeln hängen, laufe weiter, rutsche aus, laufe weiter. Ein Dornenzweig frisst sich durch den Stoff meiner Hose, verhakt sich in meiner Wade, ich reiße mich los, laufe weiter. Jeglicher Schmerz ist betäubt. Die Stimmen hinter mir treiben mich an, treiben mich weiter.
Ich kann nicht weiter als drei Meter in die Dunkelheit sehen. Alles um mich herum ist verwuchert, umgestürzte Bäume zwingen mich Umwege zu gehen, wildes Wurzelweg droht mich zu Fall zu bringen. Allerdings hat das auch den Vorteil, dass es meine Verfolger nicht einfach haben werden mir zu folgen. Zumindest bilde ich mir ein, die kleinen Lichter in weiterer Entfernung zu sehen, als noch vor wenigen Minuten. Ihre Rufe verklingen durch den stärker einsetzenden Regen, der auf die Blätter prasselt und so laut klingt, als falle er auf ein Blechdach. Um mich herum wird es immer düsterer, meine Orientierung ist beinahe nicht mehr vorhanden. Es kommt mir vor, als würde der Wald immer dichter werden, das Licht des Mondes immer weiter schwinden. Aber ich renne weiter. Einfach weiter.
Meine Lungen krampfen, ich hüstele leise unter der Anstrengung und auch meine Muskeln scheinen mittlerweile Feuer gefangen zu haben. Scharfer Schmerz schießt durch meine Beine, mein Wadenmuskel krampft, Tränen treten mir in die Augen. Ich kann nicht stehen bleiben, es geht nicht. Seitenstechen setzt ein und ich zwinge mich dazu, gleichmäßiger zu atmen. Weitere Äste reißen meine Haut an Armen und Beinen auf, die Wunde in meinem Gesicht beginnt zu pochen. Die Angst vor dem, was mich erwartet, wenn ich stehen bleibe, lässt mich jedoch immer wieder neue Kräfte schöpfen. Überlebenswille, Kampfmodus. Adrenalin fließt wie Benzin durch meine Adern, meine Muskeln und bringt mich dazu mein Tempo wieder etwas zu erhöhen. Ich kann kaum fassen, dass ich es bis jetzt noch nicht geschafft habe die Männer hinter mir abzuhängen. Wie können sie mir folgen? Wie können sie die Kraft dazu haben weiter und weiter zu laufen? Zwar ist mein Zeitgefühl faktisch nicht vorhanden, aber ich bin mir sicher, dass mittlerweile fast eine halbe Stunde im Dauermarsch vergangen sein muss.

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Afraid of you
Mistério / SuspenseKolumbien. Gefangen bei einem der einflussreichsten Männer des Landes. Und es gibt kein Entkommen. "Auch er sieht mir direkt in die Augen. Er verzieht keine Miene. Kalt, wie die Farbe seiner Augen. Hart, wie die Muskeln an seinem Körper...