Thirty-Three. Awkward

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♦ Emily ♦

Mit gekräuselter Nase stehe ich vor dem Spiegel, fahre mir über den Kopf und drehe mich von Seite zu Seite. Immer und immer wieder. Und ich kann mich trotzdem nicht an mein neues Erscheinungsbild gewöhnen. Wenn ich zuerst Bens Idee meine Haare zu färben für lächerlich empfunden habe, muss ich mir nun eingestehen, dass mich ein ganz anderes Mädchen im Spiegelbild ansieht. Meine lange wellige Mähne ist nicht mehr blond, sie lässt meine grünen Augen nicht mehr strahlen. Nun sind sie in einem dunklen goldbraun gehalten, was meine Haut noch weißer und meine Augen noch grüner wirken lässt. Noch dazu hat Maria mir die Spitzen geschnitten, ein paar Stufen hineingemacht, sodass die Haare leichter fallen und perfekt mein Gesicht umrahmen.

Es ist eine komplette Verwandlung, die wahrscheinlich nur mein Innerstes nach außen trägt. All die Veränderungen der letzten Wochen, den Schmerz, die Hoffnung, die Dunkelheit. Ich bin nicht mehr das unschuldige Mädchen vom Lande – auch wenn ich sie mir gelegentlich zurückwünsche, weiß ich, dass ich stärker geworden bin. Noch stärker, als ich es schon immer sein musste.

Neben meinem guten Notenschnitt hatte ich meine Eltern immer auf der Farm unterstützt, mich um meinen Bruder gekümmert, wenn sonst niemand Zeit für ihn hatte und ich hatte mir sogar einen kleinen Nebenjob in einer Buchhandlung in der Nähe der Schule besorgt. Mit dem Geld konnte ich meinem Vater unter die Arme greifen und zumindest das Futter für die ganzen Tiere bezahlen, die ich mit den Jahren angeschleppt hatte. Bis heute danke ich ihm auf Knien dafür, dass er so ein großes Herz hat und sich immer dazu erweichen ließ, eine arme Seele nicht einfach so zurückzulassen. Zwar bin ich die einzige aus der Familie, die vehement auf Fleisch verzichtet und auch darauf achtet, dass Eier und Milchprodukte nur aus tierfreundlicher Produktion kommen, aber mein Dad wird genauso schwach wie ich, wenn er ein misshandeltes und verlorenes Wesen sieht. Das haben wir schon immer gemeinsam.

Ein Anflug von Melancholie erfasst mich und ich reiße mich von meinem Anblick los, ehe ich eine leichte Weste überstreife, die auf der Badewanne gelegen hat. Aus dem reich bestückten Schrank krame ich noch ein Paar Flip Flops hervor und öffne mit zittrigen Fingern die Tür zum Gang. Maria hat mir erzählt, dass Ben die letzten Tage dafür gesorgt hatte, Unmengen an Klamotten in meiner Größe zu beschaffen und hat sie unbemerkt in mein Verlies geschleppt. Laut ihrer Aussage handelt es sich dabei um lauter hochwertige und wunderschöne Ware. Ich habe keine Ahnung von Outfits, Kleidern oder sonst etwas. Kleidung hat für mich schon immer einen eher pragmatischen Stellenwert und muss nicht unbedingt teuer und hübsch sein.

Ursprünglich befanden sich in dem Schrank in meinem Zimmer nur drei Paar einfach Shorts und fünf Paar ebenso einfache Tops. Und genau das habe ich mir heute wieder angezogen. Um ehrlich zu sein, habe ich mir nicht mal die Mühe gemacht, die vielen Sachen durchzusehen. Sollte das ein Versuch sein, sich mir gegenüber nett zu verhalten, dann kann er mich mal. Nach den gestrigen Ereignissen kann er mir getrost den Buckel runterrutschen.

Erleichtert stelle ich im Erdgeschoss fest, dass ich alleine bin und ich schlappe in die Küche, betätige die Kaffeemaschine und beobachte, wie die Bohnen gemahlen und die braune Brühe in eine Tasse läuft. Eigentlich bin ich kein Fan von Kaffee – eher im Gegenteil -, aber heute brauche ich ihn dringend. Die ganze Nacht über hatte ich mich unruhig hin und her gewälzt, wurde von Albträumen geplagt, in denen ich ständig Emanuel vor Augen hatte. Irgendwann konnte ich nicht mehr und hatte mich damit beschäftigt, einen Plan auszutüfteln, wie ich Ben am Besten überlisten kann.

Ich werde bis zum letzten Atemzug kämpfen, wenn das auch heißt, dass ich am Ende verlieren werde. Aber versuchen muss ich es einfach.

Mit meiner Tasse bewaffnet, schlendere ich durch das Wohnzimmer, mache an der Terrasse halt und schüttle mich, als mich eine Gänsehaut überkommt. Das Fenster ist war bereits erneuert worden, aber die Erinnerungen an die Schießerei sind noch immer mehr als präsent. Mein Blick ist auf den Wolkenlosen Himmel gerichtet, schweift über die riesigen Baumkronen und den davorliegenden Garten. Ananasgewächse zieren den Rand, umringt von Bromelien, großen Kakteen und Orchideen in allen verschiedenen Farben. Das Gras ist saftig grün und auf der linken Seite hinter dem Pool entdecke ich sogar einige Ingwergewächse. Fast kann ich die Gewürze riechen und ich will meine Augen gerade schließen, als ich eine Bewegung im Wasser ausmachen kann.

Afraid of youWo Geschichten leben. Entdecke jetzt