Eighty-Four. Visit

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♦ Emily ♦

„Bist du sicher, dass du mich morgen nicht brauchst?" Skeptisch, und dem tadelnden Blick meines Bosses nach zu urteilen, auch etwas flehentlich, sehe ich zu Jason hinauf. „Es macht mir wirklich nichts aus eine Schicht zu übernehmen." Er seufzt, verschränkt die Arme vor der breiten Brust und setzt seine typisch chefmäßig strenge Miene auf.

„Süße, warum auch immer du dich in Arbeit ersticken willst, hast du dir deinen freien Tag verdient. Fahr nach Portland oder nimm den Zug nach Seattle und schau dir die Stadt an. Hauptsache ich sehe dich morgen nicht." Er grinst, nachdem ich angeekelt die Nase rümpfe. „Und jetzt sieh zu, dass du abhaust." Mit dem Daumen zeigt er über seine Schulter und ich gebe mich grummelnd geschlagen. Es bringt nichts mit ihm zu diskutieren. Das habe ich in den letzten Wochen des Öfteren versucht. Man sollte doch meinen, dass einem Geschäftsmann nichts lieber ist, als tüchtige und vollmotivierte Arbeitstiere als Angestellte zu haben. Natürlich muss ich bei meinem Glück genau den einen erwischen, der mich förmlich dazu zwingt, einen freien Tag pro Woche einzulegen. Für mich ist er eine nette Umschreibung der Pest. Mal abgesehen davon, dass ich nicht weiß was ich mit mir anfangen soll, könnte ich die zusätzliche Kohle gut gebrauchen.

Genervt schultere ich meine Tasche, übersehe Jasons Augenrollen und verlasse die Küche über den Barbereich um mich von Josie zu verabschieden. Sie poliert gerade Gläser hinter dem Tresen und schüttelt grinsend den Kopf, als sie mich hinter sich bemerkt. „Wir sehen uns übermorgen." Begeistert wie ich bin, ringe ich mich nur zu einem flüchtigen Winken ab und muss doch leicht lächeln, weil sie mir einen Handkuss zuwirft. Ihr Grinsen wird schelmisch.

„Einen schönen freien Tag morgen", flötet sie und beugt sich über den Tresen, als ein Kunde an sie herantritt. Es ist total nervig, dass sich alle über mich lustig machen, nur, weil ich gerne die Woche durcharbeiten möchte. Glücklicherweise habe ich es in der Zwischenzeit geschafft, all ihre Fragen nach dem warum erfolgreich abzuschmettern. Ich kann mir gut vorstellen, dass die Wahrheit für Beklemmung bei meinen Kollegen sorgen würde.

Im Vorbeigehen verabschiede ich mich von einigen Kunden, öffne die Ladentüre und tausche den Geruch nach Frittiertem und Kaffee durch die salzige Meeresluft Newports aus. Wie jeden Abend bleibe ich vor dem kleinen Restaurant stehen und überprüfe mit zusammengekniffenen Augen den Parkplatz direkt gegenüber. Danach lasse ich meinen Blick nach rechts und links schweifen. Dann beginne ich von vorne. Drei Mal nacheinander. Zuletzt drehe ich mich nochmals um, spähe durch das große Fenster hinter mir und gehe sicher, dass dort noch die gleichen Gäste sitzen, wie noch vor wenigen Sekunden. Nachdem ich mir sicher bin nichts ungewöhnliches entdeckt zu haben, laufe ich die kleine Promenade nach links, bis ich an Mrs Staceys kleiner Schneiderei angekommen bin, wo ich mich unter den überdachten Eingang stelle und ihr von draußen zuwinke, ehe ich die große Kreuzung nach Anomalitäten absuche. Anschließend gehe ich weiter, schüttele meine angespannten Schultern und lasse die angestaute Luft aus meinen Lungen, als ich nach rechts in Richtung Strand abbiege. Überfüllte und vollbefahrene Straßen machen mich nervös.

Der Weg von meiner Arbeit zu meiner kleinen Wohnung wäre deutlich kürzer, würde ich nicht täglich einen Umweg durch die Siedlung am Strand machen. Die Aussicht ist es jedoch Wert. Ich versuche zwar meine Routine immer mal wieder zu brechen und andere Wege einzuschlagen, doch ich kann mich nicht von dieser malerischen Umgebung trennen. Sie gibt mir morgens und abends den richtigen Schwung durch den Tag zu kommen. Somit gehe ich auch heute wieder das Risiko ein und steuere direkt auf den kleinen Weg an den Dünen zu.

Eine kühle Brise weht mir die Haare ins Gesicht, als ich mich erneut nach hinten umdrehe und den Weg hinter mir kontrolliere. Salzige Meeresluft weitet meine Atemwege und ich hole einmal tief Luft um mich zu beruhigen, um mein klopfendes Herz in einen gesunderen Rhythmus zu bringen. Fröstelnd ziehe ich die Jacke fester um meinen Körper, verberge mein Kinn im Kragen und zwinge mich, meine verkrampften Hände zu entspannen. Der Kies unter meinen Füßen knirscht, als ich auf den Fußgängerweg einbiege und zu der Plattform laufe, die sich ein paar Meter über dem Strand befindet. Meine Augen sind fest auf den Horizont gerichtet, an dem nur noch die letzten Strahlen der Sonne eingefangen sind. Freiheit. Alles an diesem kleinen Ort in Oregon erinnert an die Ferne, die Weite. Keine erdrückenden Hochhäuser, keine Menschenmassen, in denen Gefahr lauert. Nur die reine und raue Natur des Pazifiks. Vielleicht ist auch genau das der Grund dafür, dass ich seit drei Monaten hier stecken geblieben bin.

Afraid of youWo Geschichten leben. Entdecke jetzt