♦ Emily ♦
„War?", hake ich nach und starre auf meine im Gras wackelnden Zehen. Ein bisschen tut es mir jetzt schon leid, dass ich unbedingt meine Neugierde befriedigen wollte. Ich höre und spüre es, wie viel Kraft es Diego kosten muss über sie zu sprechen.
„Ja. Sie ist vor fünf Jahren getötet worden", berichtet er monoton. Ein kurzer Blick zu ihm zeigt, dass seine Augen ins Leere starren. Er rupft in Gedanken versunken das Gras aus dem Boden und zieht die Lippen ein, ehe er direkt zu mir sieht. Mein Herz zieht sich vor Mitgefühl zusammen und ich greife reflexartig nach seiner unruhigen Hand um sie zu drücken. In genau solchen Momenten denke ich wieder, dass es mir schlechter gehen könnte. Immerhin weiß ich, dass es meiner Familie gut geht, dass sie am Leben sind. „Wir sind damals nach dem Tod meiner Eltern nach Medellin zu unserem Onkel gezogen und sie hat angefangen in einem Stadtbekannten Club zu arbeiten", fährt er fort und ich traue mich kaum Luft zu holen um ihn nicht zu unterbrechen, „der Club gehörte dem alten Restrepo, Ben's Onkel und Ziehvater und wie es sich nun Mal für gute Geschichten gehört, haben sich die beiden ineinander verliebt." Ich kann nichts dagegen tun, ich bin machtlos, als ich doch tatsächlich einen spitzen Stich in meiner Brust fühle. Ich bin eifersüchtig auf ein totes Mädchen.
Diego mustert mich mit einem traurigen Schmunzeln, löst seine Hand aus meiner und schlingt sie um seine angezogenen Knie. „Carmen hat schon immer von einem besseren Leben geträumt. Sie wollte raus aus der Armut, am besten raus aus Kolumbien. Sie wollte für uns beide eine Welt fernab von Gewalt und Korruption. Dass sie sich natürlich gerade in den Erben eines der größten Kartelle verliebt, hatte sie wohl auch nicht geplant." Ein trostloses Lachen geht über seine Lippen und ich fühle mich vollends überfordert. Nicht wissend, wie ich ihm Trost spenden könnte und mit einem überdimensionalen schlechten Gewissen, weil ich all die Erinnerungen in ihm heraufbeschwöre. „Du musst wissen, dass Ben früher anders war. Er war ... nicht so verbissen, so kaputt. Er hat seinen Onkel gebeten ihm etwas Geld zu geben um mit uns abzuhauen und neu anzufangen. Er hätte alles für sie getan. Nur war es da bereits zu spät", sagt er leise und lässt den Kopf hängen. Mir bricht das Herz in tausend Teile und gleichzeitig bin ich verwirrt von den vielen Informationen, die er mir auf dem Silbertablett verwirrt. Es ist für mich schwer erdenklich mir Ben abseits seiner Geschäfte und seiner Machtbesessenheit vorzustellen. Genauso wie es meine Vorstellungskraft sprengt, ihn mir als verliebten jungen Mann auszumalen. Für mich ist er immer düster und dominant und hat ein unerschütterliches Selbstbewusstsein, das schon schwer an Arroganz grenzt.
„Was ist passiert?", piepse ich. Ob ich diese Antwort wirklich hören möchte, sei so dahingestellt. Gänsehaut überkommt mich und ein dicker Kloß in meinem Hals schnürt mir die Luft ab. „Ein verfeindetes Kartell hat sie in die Finger gekriegt und sie uns Stück für Stück zurück geschickt", erwidert er trocken. Ich muss ein Würgen unterdrücken, genauso wie die Tränen, die drohen meine Wangen zu fluten. Es tut mir so unsagbar leid für Diego, wie er seine Schwester verloren hat, die er offensichtlich sehr geliebt hat. Und irgendwie entwickele ich sogar Mitleid für den jungen Benjamin Clarke, der diesem gewalttätigen Leben den Rücken zuwenden wollte und den Sinn dahinter verlor, bevor es dazu kommen konnte. All das rechtfertigt nicht seine Taten, nicht die Brutalität und die Kälte in seiner Miene, doch es macht es für mich leichter ihn zu verstehen. Ich habe Recht behalten, als ich bereits am Anfang unserer Begegnung ahnte, dass ihm etwas Schreckliches zugestoßen sein muss. Kein Mensch wird böse geboren. Auch nicht Ben, oder Diego. Wir alle werden vom Leben gezeichnet und entscheiden uns irgendwann für einen Weg. Manche wählen eben den falschen.
„Er hat sie gejagt", auf Diegos Gesicht erscheint ein finsterer Ausdruck, der mir ebenfalls bis heute verborgen geblieben ist, „er hat ihre Mörder gejagt und jeden einzelnen büßen lassen für das, was sie ihr angetan haben."
„Und dann? Wieso seid ihr beide nicht gegangen, wie ihr es vorhattet?"
„Wie ich schon sagte, es hat ihn verändert. Er wurde zu einer Maschine erzogen, mit der nur meine Schwester wusste umzugehen. Nachdem sie weg war... Ben ist voll ins Geschäft eingestiegen, hat nach dem Tod seines Onkels sein Erbe angetreten und mich bei sich aufgenommen. Wahrscheinlich bin ich bei ihm geblieben, weil ich selbst nicht wusste wohin." Lapidar zuckt er mit den Schultern und ich greife nun doch wieder nach seiner verkrampften Hand. „Aber dieses Leben kann dir doch nicht gefallen? Du bist alt genug, weshalb gehst du nicht?"
„Er hat alles für mich getan, Emily. Er war immer für mich da. Ben ist wie der große Bruder für mich den ich nie hatte und auch wenn es mich krank macht daran zu denken, was meine Schwester von alle dem halten würde, werde ich ihm immer den Rücken stärken. Egal was kommt." Seine Augen richten sich direkt auf meine und es fällt mir schwer, unseren Blickkontakt nicht zu unterbrechen. Vor meinem geistigen Auge sehe ich ihn als kleinen hilflosen Jungen, der Machtlos zusehen musste wie seine Schwester hingerichtet wird. Wenn ich nur daran denke, dass James etwas passieren könnte, meine ich verrückt zu werden. Wie schlimm muss es also sein das alles mitmachen zu müssen? Seine ganze Familie zu verlieren und am Ende ganz alleine dazustehen?
Ich kann ihn nicht dafür verurteilen bei Ben geblieben zu sein. Er war letztlich alles, was er noch hatte. Was wiederrum ebenso erklärt, weshalb Diego bei seinem „Boss" einen so hohen Stellenwert hat. Irgendwo tief in seinem Innersten scheint er noch immer der Junge von damals zu sein, der auf seine Liebsten aufpasst. Selbst wenn die Ausführung seines Schutzes völlig falsch ist. Das habe ich selbst ja auch schon live miterlebt.
„Danke, dass du so ehrlich warst", murmele ich bedrückt und senke meinen Blick erneut auf meine nackten Füße. Was sollte ich auch sagen? Es tut mir leid? Das sind doch alles nur blöde Floskeln, die er vermutlich schon tausende Male gehört hat. „Zumindest erklärt das einige Verhaltenszüge von Ben."
„Was meinst du?"
„Keine Ahnung, er ist manchmal echt komisch. Noch komischer als sonst. Vor ein paar Wochen war er sogar kurz vor einem Nervenzusammenbruch gestanden, da bin ich mir sicher." Diego macht eine auffordernde Handbewegung und ich seufze leise.
„Das war an dem Tag, als wir Peewee gefunden haben. Er hat nachts nochmals nach uns gesehen und als ich ihm dafür gedankt habe, dass er echt nett zu mir war, ist er völlig apathisch geworden. Total verrückt... was auch immer da mit ihm los war. Und seitdem kommt es mir vor, als wäre er noch mehr in sich gekehrt." Die Trauerstunde scheint vorüber zu sein, denn auf Diegos Gesicht hat sich ein gigantisches Grinsen ausgebreitet, das seine Augen zum Leuchten bringt. Etwas ... naja ... unpassend? „Er mag dich. Deshalb. Seitdem du hier bist hat er noch eine Schraube mehr locker in der Birne", gluckst er. Seine Ausdrucksweise lässt mich leise lachen, doch als ich seine Worte in meinem Gehirn verarbeite, verschlucke ich mich beinahe an meiner eigenen Spucke.
„Blödsinn!", platzt es aus mir heraus. Das ist der größte Quatsch den ich seit langem gehört habe. Mal davon abgesehen, dass ich der vollsten Überzeugung bin, dass Ben nur von einem Klumpen Stein in seiner Brust am Leben gehalten wird. Er kann niemanden mögen. Nicht so, wie Diego mir das verkauft.
„Ich bin ein guter Beobachter, Emily. Und auch wenn ich noch immer hoffe, dass Ben eines Tages die Kurve kriegt, solltest du trotzdem vorsichtig sein. Er kann sehr gut manipulieren und du bist momentan sein aktuelles Spielzeug." Er sieht mich eindringlich an, ehe er sein Handy aus der Hosentasche fischt und einen Blick auf sein Display wirft. „Wenn man vom Teufel spricht." Ich werde mit einem typisch warmen Diego-Lächeln belohnt und verfolge wie er sich aus dem Gras erhebt. „Pass auf dich auf, ja?" Sein eindringlicher Blick verschafft mir eine Gänsehaut und ich nicke mechanisch, bevor er mir kurz über den Kopf wuschelt und anschließend mit in den Hosentaschen vergrabenen Händen zurück zum Haus spaziert.
Diegos Worte hallen in der Stille nach wie ein Echo. Während ich Peewee dabei zusehe wie er sich sonnt, blitzen Bilder von einer kolumbianischen Schönheit auf, einem perfekten Traumpaar und einem einsamen Jungen. Und ich sehe eisblaue Augen, die mich mit einer nie da gewesenen Intensität anstarren.
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Babamm! Zumindest ein Rätsel ist gelöst. Was sagt ihr dazu? Ben wollte diesem Leben den Rücken kehren und nun ist er zum Monster geworden. Und Diego scheint ja recht davon überzeugt zu sein, dass Ben nach Emily verrückt ist. Ist seine Warnung berechtigt?
Bis in einer Stundeee <3

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Afraid of you
Mister / ThrillerKolumbien. Gefangen bei einem der einflussreichsten Männer des Landes. Und es gibt kein Entkommen. "Auch er sieht mir direkt in die Augen. Er verzieht keine Miene. Kalt, wie die Farbe seiner Augen. Hart, wie die Muskeln an seinem Körper...