♦ Emily ♦
„Ich kann nicht glauben, dass du in Mr. Leroys Klausur tatsächlich eine Eins hast! Niemand hat das bisher hingekriegt. Ehrlich jetzt, Ems. Gibst du mir ein bisschen von deinem Talent ab?" Ann seufzt und streicht sich ihre langen braunen Haare nach hinten, die vom Fahrtwind wild umher gewirbelt werden. „Jetzt tu doch nicht so. Du hast auch eine gute Zwei. So besonders ist das nicht", murmele ich leise und trete etwas fester in die Pedale meines alten Fahrrads, um ihren weiteren Lobeshymnen zu entfliehen. Es ist mir unangenehm, dass ich in dem Aufsatz tatsächlich so gut abgeschnitten habe. Um ehrlich zu sein, habe ich mich nicht einmal angestrengt, was ich keinesfalls zu laut herausposaunen sollte. Außer Ann und Marco hält mich sowieso schon die ganze Klasse für einen besserwisserischen Streber und Lehrerliebling. Manchmal wäre es mir auch lieber, wenn ich mich mehr für Partys und weniger für Bücher interessieren würde. Aber so bin ich nun mal. Und mittlerweile habe ich das akzeptiert. Ich hoffe nur, dass die Zeit auf dem College meine Zeit werden wird. Umgeben von Gleichaltrigen, die die gleichen Interessen wie ich hegen, kommt mir momentan vor wie ein unerreichbarer Traum. Wenn meine Klassenkameraden wüssten, dass sogar Mr. Leroy es war, der mein Essay ohne mein Wissen an die Dublin University geschickt hat, würden sie mich vermutlich noch mehr hassen.
Am Anfang war ich geschockt, wütend und panisch, als mein Englischlehrer mir die Bewerbungsunterlagen für ein Stipendium gegeben hatte, aber mittlerweile bin ich ihm dankbar. Ich hatte Angst vor der Reaktion meiner Eltern, dass ich insgeheim unheimlich gerne studieren würde und nur aus reinem Pflichtgefühl vorhatte, die Farm meines Vaters zu übernehmen. Doch auch das war unbegründet. Meine Eltern sind stolz auf mich. Darauf, dass ich so gut in der Schule bin, dass ich so fleißig bin und doch tatsächlich alleine mit einem Essay an einer der besten Universitäten des Landes überzeugen konnte. Sie haben meine Zweifel im Keim erstickt, dass ich ihnen mit meinem Studium in den Rücken fallen würde und haben mir hoch und heilig versprochen mich zu unterstützen. Zwar fühle ich noch immer einen kleinen gemeinen Piecks in meiner Brust, wenn ich an die hohen Kosten denke, aber, wenn ich mir einen Job in Dublin suchen würde, könnte ich zu der Miete, die nicht im Stipendium enthalten ist, etwas beisteuern. Zumindest ist das mein Plan.
„Kommst du heute Abend mit?" Ann hat zu mir aufgeschlossen und zieht fragend die Augenbrauen nach oben. Auf ihrer Stirn haben sich trotz des starken Windes Schweißperlen gebildet und ihre kleinen Hamsterbacken haben sich vor Anstrengung rot gefärbt. Normalerweise fährt sie mit ihrem Bruder die zehn Kilometer zur Schule. Der ist aber diese Woche auf Montage und kann sie nicht mit in die Stadt nehmen, weshalb sie sich widerwillig meiner täglichen Radtour angeschlossen hat. „Nein. Erstens kann mich Susanne nicht leiden und zweitens wollte ich heute Abend noch ein wenig mit Tom trainieren."
„Susanne kann dich nur nicht leiden, weil du viel hübscher bist als sie und Tom läuft dir nicht davon. Irgendwann wirft er dich sowieso ab und trampelt dich zu Tode." Sie zieht eine Grimasse und ich sehe sie streng an. „Ich habe schon riesen Fortschritte gemacht. Er hat Potenzial und muss erst mal wieder lernen zu vertrauen. Außerdem habe ich morgen meinem Papa versprochen, dass ich mit ihm nach Limerick fahre. Dort ist wieder mal ein Verkauf von verbrauchten Polo-Pferden. Vielleicht können wir zwei oder drei dieser armen Wesen retten, bevor es zu spät ist." Meine beste Freundin äfft mich theatralisch nach und sie kann froh sein, dass wir auf Fahrrädern unterwegs sind. Sonst hätte sie einen Klaps auf den Oberarm kassiert.
„Ehrlich, Ems. Wir machen in zwei verdammten Wochen Abschluss! Wir sollten die restlichen Tage in Freiheit noch genießen, Fehler machen, Jungs küssen, uns betrinken. Alles, was man eben macht, wenn man jung ist und nicht im Geiste um Jahrzehnte gealtert, so wie du dich aufführst!" Gespielt empört reiße ich den Mund auf und funkele sie an.
„Ich bin im Geiste nicht um Jahrzehnte gealtert! Ich konzentriere mich lieber auf die Uni-Zeit und beschließe meine Fehler mit erfahrenen Jungs zu machen, die nicht glauben, dass ein Rülps-Wettbewerb ein kulturelles Ereignis wäre", sage ich trocken und verkneife mir ein Lachen.

DU LIEST GERADE
Afraid of you
Mystère / ThrillerKolumbien. Gefangen bei einem der einflussreichsten Männer des Landes. Und es gibt kein Entkommen. "Auch er sieht mir direkt in die Augen. Er verzieht keine Miene. Kalt, wie die Farbe seiner Augen. Hart, wie die Muskeln an seinem Körper...