Emily
4 Jahre später
Kritisch beäuge ich mein Outfit im Spiegel und drehe mich zum gefühlt hundertsten Mal von links nach rechts. Irgendetwas stört mich und ich kann einfach nicht sagen, was es ist. Der schwarz-weiß karierte Rock ist Fusselfrei und endet ein kleines Stück über meinen Knien, die in hübschen Overknee-Stiefeln stecken. Auch mein Rollkragenshirt ist makellos weiß und der schwarze Blazer ist perfekt gebügelt. Für ein Vorstellungsgespräch ist es nicht zu bieder und auch nicht zu aufreizend. Dennoch passt mir etwa nicht und es macht mich schier verrückt, dass ich es nicht greifen kann. Noch dazu ist heute ein verhexter Tag. Es fing damit an, dass ich meinen Kajal auf der Fensterbank vergessen hatte und er so damit total hinüber war. Danach meinte meine Kaffeemaschine nur noch Plörre von sich geben zu müssen und zu guter Letzt stecke ich in meinem Kleidungs-Fiasko fest.
Leider kann ich dieses nicht mehr beheben, da mir ein Blick auf die Uhr zeigt, dass ich mich auf den Weg machen muss. Es ist mein drittes Vorstellungsgespräch in den letzten beiden Wochen. Nach einer bekannten irischen Zeitung, die meinen Arbeitsvorstellungen nicht zu hundert Prozent entspricht, war ich bei einem kleinen aber feinen Verlag im Bereich der Belletristik. Zu meinem Glück wurde mir dort sofort ein Job angeboten, doch ich wollte das Gespräch heute unbedingt noch abwarten. Ich habe mich schon vor Monaten bei dieser Firma beworben, die in den letzten zwölf Monaten erstaunlich gewachsen ist. Aus den Medien konnte ich entnehmen, dass der Verlag aufgekauft und generalüberholt wurde - mit Erfolg. Schon jetzt gehören einige Bestseller-Autoren zu ihrem Kundenstamm. Selbst wenn ich mir meine Chancen als frische Lektorin ziemlich schlecht ausrechne, in einem solchen Haus unterzukommen, kann ich ja nichts verlieren, oder? Wer nicht wagt der nicht gewinnt.
Also schüttele ich sämtliche negativen Gedanken ab, schnappe mir meine Handtasche und verlasse mit einem Seufzen meine chaotische Wohnung, die noch immer mit Umzugskartons vollgestopft ist. Nachdem ich vor vier Wochen meinen Abschluss an der Limerick University in Englisch und Kommunikationswissenschaften abgeschlossen habe, konnte ich endlich meinen Traum verwirklichen und nach Dublin ziehen. Für meine Eltern war es ein großer Schritt. Ebenso für mich, doch die beiden tun sich noch heute sehr schwer damit, mich aus den Augen zu lassen. Nach allem was passiert ist, kann ich es ihnen nicht verübeln. Wer könnte das? Es geschieht nicht alle Tage, dass sie totgeglaubte Tochter nach Monaten des Verschwindens wieder mit einem düsteren Trauma vor der Haustür steht.
Ein Jahr hat es gedauert, bis ich wieder im Stande dazu war, mein Leben in die Hand zu nehmen und über das Vergangene hinwegzukommen. Zwölf Monate und endlose Sitzungen bei verschiedenen Psychiatern, die versuchten, alles Erlebte aus mir herauszuquetschen, als wäre ich eine Zitrone. Anfangs konnte ich es nicht. Vor allem über Ben zu reden fiel mir unglaublich schwer. Damals glaubte ich, dass unsere Zeit nur uns gehören sollte. Ich wollte keine Analysen über sein oder mein Verhalten hören. Ich wollte nicht wissen, was ein Spezialist über unsere „Beziehung" zu sagen hat. Denn es war mir klar, auf was es hinauslaufen würde. Stockholmsyndrom.
Niemand hätte es verstanden, wenn ich weiterhin daran festgehalten hätte, wirkliche und echte Gefühle für diesen Mann gehabt zu haben, der mir mein Leben geraubt hat. Nach der ganzen Zeit verstehe ich es selbst nicht. Sein heiß-und-kalt-Spiel war grausam und hat mir über Wochen jeglichen Verstand aus dem Hirn gesogen. Meine Eltern wissen bis zum heutigen Tag nicht, was wirklich in Kolumbien passiert ist. Und ich bin unglaublich froh darum. Ich schäme mich für alles und gleichzeitig gibt es tief in meinem Herzen einen Fleck, der Ben fest in sich eingeschlossen hat.
Nachdem ich die Haustür meines Mietshauses geschlossen habe, bleibe ich auf der Straße stehen, sehe zweimal nach links, zweimal nach rechts und drücke viermal meinen Daumen in meine Handinnenfläche, bevor ich loslaufe. Ein weiterer Vorteil meiner schönen Altbauwohnung ist die kurze Distanz zur Bahn. In nur wenigen Schritten komme ich an der Haltestelle an, stelle mich zur Seite der gläsernen Vertäfelung und kann es mir nicht verkneifen, ein weiteres Mal über meine Schulter zu sehen. Die äußeren Wunden meines Leids mögen verheilt sein, doch in mir ist ein Stückchen Dunkelheit geblieben, das ich einfach nicht abschütteln kann.

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Afraid of you
Mistério / SuspenseKolumbien. Gefangen bei einem der einflussreichsten Männer des Landes. Und es gibt kein Entkommen. "Auch er sieht mir direkt in die Augen. Er verzieht keine Miene. Kalt, wie die Farbe seiner Augen. Hart, wie die Muskeln an seinem Körper...