57 Schicksal #Kürbistumor

1.1K 73 16
                                    

"Was fehlt dir?",fragte ich, als der andere Junge in meinem Zimmer aufgewacht war. Vor einer halben Stunde hatte ihn eine Schwester hereingebracht, sein Bett mit zwei Meter Abstand zu meinem an die Wand abgestellt und mir mein Mittagessen gebracht. "Was?",fragte er verwirrt mit rauer Stimme. "Was dir fehlt?" Ich setzte mich langsam auf. Mein Kopf schmerzte höllisch. Insinktiv fasste ich an meine Wunde, spürte aber statt Haut und Haare die Fasern eines Verbandes. "Wer bist du?",fragte der Braunhaarige. Auch er hatte sich aufgesetzt und sah zu mir herüber.

"Ich, lieber Manuel, bin Patrick. Ein 15-jähriger Junge mit Kreislaufstörungen mit Hang zu Ohnmacht und falle dabei gerne auf spitze Ecken. Jetzt du",erklärte ich und grinste. "Woher weißt du meinen Namen?",fragte er. Er runzelte die Stirn und sah mich unverständlich an. "Die Schwester hat ihn mir gesagt und, dass ich mit dir reden soll, da du dich schwer tust, soziale Kontakte zu knüpfen. Und wenn wir schon von der Schwester reden. Du hast das Mittagessen verpasst. Wenn du Hunger hast, kannst du meine Reste haben. Es gibt Hühnchen mit Erbsen, Reis und Karotten. Und als Nachspeise ein halbes Stückchen Schokokuchen",bot ich an.

"Aber eigentlich haben die Schwestern eine Schweigepflicht. Sie hätte es dir nicht erzählen dürfen",wand er ein. Seine Stimme war immernoch rau. "Und trotzdem hat sie es mir gesagt. Ich schätze deine Eltern haben es erlaubt. Sie müssen ziemlich verzweifelt sein. Wie viele Freunde hast du?" "Keinen",gab er leise zu. "Ok, also du bist Manuel, 15 Jahre alt und hast keine Freunde." "Und ich hab Asthma. Kannst du bitte leise sein?" Er sah mich genervt an. Immer, wenn ich so genervt war, hatte ich Hunger, also bot ich ihm erneut meine Reste an.

"Ich habe keinen Hunger." Er legte sich hin, raffte die Decke hoch bis zu seinem Hals und drehte sich von mir weg. "Es hat mindestens 30 Grad in dem Raum. Willst du wirklich unter der Decke liegen?",fragte ich ihn mit Blick auf meine Füße, die ich nur mit der Decke bedeckt hatte, da ich immer, wirklich immer kalte Füße hatte. "Sei leise",grummelte er. "Wieso bist du da?",fragte ich weiter. Ich hörte die Decke rascheln und sah zu ihm. Er hatte sich hingesetzt. "Ich will nicht mehr leben",gab er zu. Dabei war seine Stimme kein bisschen traurig, sondern sehr neutral.

Ich musste schlucken, sah ihn mitleidig an und lächelte dann leicht. "Ich hab noch nie jemanden getroffen, der so offen über seine Depressionen gesprochen hat." "Ich habe keine Depressionen. Ich will einfach nicht mehr leben." Ich runzelte die Stirn. "Aber ein Symptom von Depressionen ist der vergangene Lebenswille." Manu schnaubte. "Kannst du die Differenzialdiagnosen bitte den Ärzten überlassen?",fragte er leicht belustigt. "Aber es macht Spaß",wand ich ein. "Ach, halt die Klappe";murmelte er und legte sich wieder hin.

"Gibst du zu, dass du Depressionen hast, wenn ich dir auch ein Geheimnis anvertraue",schlug ich vor. "Na gut",stimmte er zu. "Ich bin nun ja... schwul",gestand ich. Daraufhin antwortete Manu erstmal nicht. "Ist...ist etwas?",fragte ich verunsichert nach. "Nö, passt schon so",erwiderte er. "Und hast du jetzt Depressionen?" "Nope, hab ich nicht." Er lachte etwas. "Aber du hast gesagt, dass du es zugibst, dass du welche hast",schmollte ich. "Jeder Mensch lügt, Patrick." "Ich nicht."

"Oh doch. Du erst Recht." "Du hast keine Kreislaufprobleme, sondern hast einen Suizidversuch hinter dir. Du wolltest dich von einem Auto überfahren lassen und bist dabei blöd gestolpert oder dir ist der Strick gerissen. Was weiß ich. Es ist auf jedenfall schief gegangen und du bist auf den Kopf gefallen." Ich schluckte. "Du, lieber Patrick",er ahmte mich nach," bist der mit Depressionen und du hast sogar mit dem Sterben versagt. Mit etwas das jeder kann, wann er mag. Nur du nicht."

Mein Mund ließ sich nicht öffnen, selbst wenn ich es wollte. Er war trocken. Meine Augen waren geschlossen. Ich musste reslisieren, dass soeben jemand durch meine Schutzschicht gedrungen war. Er hatte mich beleidigt, als jemanden, der nichtmal sterben kann. Er hatte mir gesagt, dass ich zu dämlich für etwas so einfaches war. Es verletzte mich. Sehr sogar. Aber deswegen rumzuheulen brachte mich auch nicht weiter.

"Ich..Du..du hast Recht. Und jetzt?",fragte ich. Ich versuchte mit immernoch geschlossenen Augen meine Gefühle in diesem Moment zu bestimmen. "Ist es Zufall, dass zwei Leute, die beide schwul sind, Depressionen haben und keiner darüber Bescheid weiß und keine Freunde haben, in den gleichen Raum kommen oder ist es Schicksal?"

Lange war es still. Ich dachte über seine Frage nach. Schicksal. Mein Schicksal war es scheinbar Manuel zu treffen. Einen Jungen mit gleichen Problemen. "Wie wolltest du dich umbringen?",fragte er plötzlich. Ich war zuerst perplex, aber fand schnell eine Antwort. "Sagst du mir, wie es bei dir war?" Er nickte. "Na gut. Ich habe meinen Eltern gesagt, dass ich Baden wollte. Hab ich auch getan. Dann hab ich mich in meinen Bademantel eingewickelt, mir einen Föhn geholt und wollte ihn gerade anschalten, da hat mein Handy geklingt. Das fand ich unpassend. Ich wollte nicht sterben während mein Handy klingelte. Als ich mich nach dem Ding streckte, rutschte ich aus, bin aus der Badewanne gefallen und auf die spitze Kante unseres Waschbeckens. Meinen Eltern hatte ich, als ich aufgewacht war, nur gesagt, dass ich mich noch daran erinnere, wie mir schwindelig wurde, als ich den Föhn holte."

"Du bist echt scheiße im Sterben",bemerkte er. Ich sagte nichts. "Na gut. Ich hab mir Tabletten eingeschmissen, mein Bruder hat mich gefunden, bewusstlos. Meine Mutter ist noch arbeiten, also weiß sie es noch nicht, aber wenn sie hier ist, werden die Ärzte sie nicht anlügen, sondern sagen, dass sie in meinem Blut eine Überdosis an Schlaftabletten gefunden haben." Ich überlegte kurz. "Scheiße gelaufen",meinte ich dann als Fazit. "Kann man so sagen."

"Ich habe zuvor noch nie an Schicksal geglaubt. Aber das hier ist schon wirklich krass",murmelte ich, als ich nachts aus dem Fenster in die Sterne sah. "Was hast du gesagt?",fragte ein müder Manuel. "Nichts, schlaf wieder",erwiederte ich und ich war mir sicher, das musste Schicksal gewesen sein.

Oneshots | YouTuberWo Geschichten leben. Entdecke jetzt