Kapitel 74

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Mit einem gewiss trotzigen Gang stampfte ich in meinen silbernen glitzer High-Heels ein paar Stunden später aus dem Auto und verschwand ohne einen Blick zurück im angesagtesten Club Dortmunds. Es war der Lieblingsclub von Ann-Kathrin, der Club indem wir an Halloween feierten und ich das erste Mal Marco ziemlich anders angesehen hatte als zuvor - wenn auch betrunken. Zu diesem Zeitpunkt begann es gerade erst mit den rosa Wölkchen um mich herum und nun schien schon alles vorbei zu sein. Zumindest in diesem Augenblick jedenfalls. Wenn ich daran dachte, was in dieser Zeit alles passiert ist wurde mir schlecht. Wir kamen zusammen, stritten uns miteinander, mit meinem Vater, vertrugen uns, verlobten uns, bekamen fast ein Kind, mein Vater bekam ein Schlaganfall, verloren das Kind, stritten uns, vertrugen uns, trauerten und stritten uns erneut. Hatte ich etwas vergessen? Möglich war es natürlich. Ich musste Schlucken. Irgendwie hörte sich das alles aufgezählt schlimmer an als es im Endeffekt war, weil es mir an Marcos Seite eigentlich immer gut ging und ich meine Entscheidung keinesfalls bereute. Ich liebte ihn. Es fehlten mir bloß die rosaroten Wolken, der Alltag fehlte mir, Unternehmungen und Zuneigung. Ich wollte mit ihm alt werden, klar. Aber würde ich auch für ihn mein Leben hier in Dortmund aufgeben, um nach England zu ziehen? Die Antwort müsste eigentlich ja sein, aber momentan lag sie bei nein. Schon bei Marcos Kinderwunsch bemerkte ich, dass er eine Art Torschusspanik, und das im wahrsten Sinne des Wortes, entwickelte je älter er wurde. Dabei war dreißig doch auf keinen Fall das Ende der Welt, sondern genau das Gegenteil. Als er von dem letzten Profivertrag seiner Karriere vorhin im Restaurant sprach, knotete sich mein Magen zusammen. Was dachte er sich eigentlich dabei. Als würde ich jemals für einen Mann mein Leben zurückstellen und nach England gehen. Gerade hatte ich meinen Platz im Leben gefunden, da kommt er an und will nach Liverpool wechseln. So ein Idiot. Diese Ironie dahinter. Als ich bemerkte, dass ich schon einige Minuten vor der Eingangstür des Clubs stand, zog ich mein enges schwarzes Kleid sicherheitshalber herunter und atmete tief ein und aus, bevor ich die Tür öffnete. Ich wusste, dass Vera eine der VIP-Ecken gebucht hatte und begab mich auf der Suche danach. "Hi, da bist du ja." grinste sie. "Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!" lächelte ich artig und schob meine dämlichen Gedanken endlich bei Seite. Mein Geschenk übergab ich ihr schnell in dem ich ihr die Geschenktüte grinsend in die Hand drückte, ich konnte sowas einfach nicht. "Komm, wir gehen direkt was trinken, du siehst mir so aus, als bräuchtest du es unbedingt." schlug sie wohlwissend vor. Die Hälfte des Clubs bestand schnell aus Kommilitonen, von denen ich die meisten nur flüchtig, nicht mal beim Namen kannte. Der Rest bestand aus kleinen partywütigen Grüppchen. Es vergingen Stunden des Tanzens und Trinkens bis ich irgendwann Vera verlor in ihrem Geburtstagsgetümmel und mich an die normale Bar setzte, um meinem Leid Abhilfe schaffen zu können. "Bella was machst du denn hier?" fragte Roman mich irritiert, der plötzlich neben mir auftauchte. Ich erschreckte mich ehrlich gesagt kurz, schlürfte dann jedoch weiter an meinem KiBa, während Roman sich auf den Stuhl neben mir setzte. Es war irgendwie immer die gleiche Situation zwischen uns. Vielleicht hätte ich damals Roman eine Chance geben sollen anstatt mich direkt auf Marco zu fixieren. Weil Roman, ja der bleibt wenigstens in Dortmund. "Ich bin hier auf einem Geburtstag, gehöre zu diesen komisch tanzenden Idioten dahinten." lachte ich zwanghaft. Er schüttelte lächelnd den Kopf: "Ich dachte schon ich hätte eine Verabredung mit den Jungs verpasst." gab er zu. Als ich begann zu lachen, merkte ich erst wie sehr sich alles schon um mich herum drehte: "Mit wem bist du denn sonst da?" fragte ich, um mich selbst abzulenken. "Mit alten Kumpels und meinem Bruder." grinste er, während seine Augen die besagten Personen in der Masse suchten. Ich beobachtete, wie seine dunkelbraunen Bambi-Augen in ständiger Bewegung den Raum abscannten. Das schlürfen meines Strohhalms auf den Grund meines Cocktailglases riss ihn aus den Gedanken. Mensch, wie schnell waren diese Teile bitte leer? So ein Mist. „Soll ich dir ein Wasser mit bestellen? Ich spiele heute den Fahrer." bot er mir an. Ich schüttelte mit dem Kopf: "Nein, aber noch so einen. Schließlich muss ich das heute richtig ausnutzen hier." scherzte ich und hielt ihm das leere Glas unter die Nase. Roman schien das nicht so sehr wie mich zu amüsieren. Mein Blick fokussierte den wunderschönen Ausblick aus den riesigen, bodentiefen Fenstern. Der Club hieß schließlich nicht ohne Grund 'The View'. Klar, Dortmund ist nicht für jeden schön. Erst recht nicht für Menschen die ohne Grund hier hinfahren, so mach dem Motto einmal in den Primark und wieder zurück. Aber für mich, für jemanden der sein Leben hier verbrachte, ja für denjenigen war Dortmund schön. Da war sogar der aggressive Bahnhof kein Problem und die fußballwütigen Meuten lernte ich im letzten Jahr schließlich auch lieben. "Warum bist du so unglücklich Bella?" fragte mich Roman. Manchmal erinnerte er mich einfach extrem an Mats, denn Roman war genauso fürsorglich und gerecht wie er. "Womit soll ich denn anfangen? Mit der Fehlgeburt, meinem Vater oder damit, dass Marco vielleicht nach England wechselt?" fragte ich ironisch lachend. Roman schaute mich schockiert an. Seine Augen schauten langsam an mir herunter, mein Magen begann zu kribbeln und ich musste Grinsen. „Tanzen?" fragte ich neckisch grinsend. Obwohl er mein zittern bemerkte, meinen deutlichen Alkoholeinfluss und, dass irgendetwas gerade nicht richtig bei mir liegt das er gerne wissen wollte, willigte er ein und ging mit mir tanzen. Er war so herrlich unkompliziert und seine Nähe tat mir ausgesprochen gut. Für ihn war ich immer noch das unschuldige Mädchen das plötzlich in Brackel auftauchte und nicht die 20 Jährige verlobte, die ein Kind verloren hat. Und das strahlte er auch aus. Als plötzlich die Lichter noch mehr gedimmt wurden und ein langsames Lied gespielt wurde, griff er beherzt um meine Taille und schwang mich, des Spaßes halber, über die Tanzfläche. Wir kamen aus dem Lachen gar nicht mehr heraus. Seine Bambi-Augen funkelten mich regelrecht an. Es tat so gut endlich mal aus meinem anderen Umfeld herauszukommen und einfach Spaß zu haben. Ohne Marco, der bloß egoistisch an sich dachte, ohne Ann-Kathrin die mich mit ihrem Baby immer daran erinnert, dass ich meins verloren hatte. Ich wüsste nicht was der Alkohol da gerade mit mir veranstaltete, aber ich ließ es zu. Denn alles war besser, als der Schmerz den ich mittlerweile empfand. Es war besser mich und diesen Schmerz zu betäuben, anstatt mich ihm zu stellen. Es fühlte sich gut an, Aufmerksamkeit von einem Mann zu bekommen, der mich nicht als emotionales Wrack ansah. Für einen Moment hatte ich meine geliebte Leichtigkeit zurück, sie ergriffen und gespürt. So nah wie schon lange nicht mehr kam ich ihr - und doch war es nur ein kleiner Moment. Jedoch tat dieser Moment mir und meiner Seele unglaublich gut, ich wollte ihn nicht loslassen und betete innerlich die Nacht würde nicht schon alsbald ihr Ende nehmen, sondern ewig so weitergehen.

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