Kapitel 19

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Paddy
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war Angelo bereits aufgestanden und nicht mehr im Zimmer. Und ich musste feststellen, dass mein Rollstuhl nicht neben meinem Bett stand. Der stand vermutlich noch im Wohnzimmer und ich konnte jetzt das Bett nicht allein verlassen. So fing der Tag ja schon richtig gut an. „John!", rief ich laut. Allerdings kam keine Antwort. Irgendwie schien mich niemand von meinen Geschwistern zu hören. Da ich unbedingt ins Bad musste, um mich um meine Blase zu kümmern, blieb mir nichts anderes übrig, als uns Wohnzimmer zu krabbeln. Ich stützte mich mit den Händen auf dem Boden ab und bewegte mich so lange vorwärts, bis meine Beine vom Bett fielen. Dann zog ich mich mit den Armen immer ein Stück nach vorne. So kam ich bis zur Zimmertür, wo ich mich am Türrahmen nach oben ziehen musste, um sie zu öffnen. Danach robbte ich weiter bis zum Wohnzimmer. Das war verdammt anstrengend und ich kam ziemlich ins schwitzen. Im Wohnzimmer musste ich dann feststellen, dass mein Plan doch nicht funktionierte. Ich schaffte es nicht vom Boden in den Rollstuhl. Also musste ich wohl anders ins Bad kommen. Ich robbte weiter und kam schließlich völlig erledigt im Bad an. Dort holte ich einen Katheter aus dem Schrank, an den ich zum Glück herankam und lehnte mich dann an die Wand, um nicht umzufallen. Nachdem ich fertig war, robbte ich wieder ins Wohnzimmer und blieb vor dem Sofa sitzen. Ich war völlig verschwitzt und fertig. Endlich konnte ich Schritte hören. Irgendjemand kam aus dem Tonstudio. Kein Wunder, dass mich niemand gehört hatte. „Paddy, aufstehen. Wir brauchen dich", rief Patricia. Anscheinend dachte sie, ich wäre noch im Bett. „Tricia, ich bin im Wohnzimmer. Kannst du mir helfen", rief ich. Sofort kam sie herein. „Was machst du denn hier?" „Ich musste ins Bad, aber der Rollstuhl stand hier im Wohnzimmer. Ich bin dann ins Bad gekrabbelt und dann ins Wohnzimmer. Und jetzt schaffe ich es allein nicht in den Rollstuhl", sagte ich. „Ich hole John", mit diesen Worten verschwand sie wieder und kam gleich darauf mit John zurück. Dieser half mir in den Rollstuhl und dann folgte ich ihm und Tricia in unser kleines Tonstudio. Dort saßen bereits alle anderen. „Paddy, wir nehmen gerade den neuen Song von Barby auf. Sie möchte, dass du dazu Gitarre spielst", informierte mich Jimmy und gab mir eine der Gitarren. Dann schnappte ich mir ein paar Kopfhörer und legte los. Die anderen zogen sich nach und nach zurück. Nur Kathy und Barby blieben. Wir nahmen meine Gitarrenstimme mehrmals auf und Kathy spielte uns dann Gitarre und Gesang zusammen vor. Das wiederholten wir so oft, bis es perfekt klang. Jetzt mischte Kathy noch die anderen Instrumente dazu und Barby holte die anderen. Wir hörten uns das Lied gemeinsam an und ich sah Tränen in Barbys Augen glitzern. „Wunderschön", flüsterte Maite. Ich rollte zu Barby und drückte sie fest an mich. „Ich bin so stolz auf dich, große Schwester", flüsterte ich ihr zu. Barby konnte vor Rührung gar nicht mehr sprechen. Sie nickte nur und verschwand dann, so schnell es ging, in ihr Zimmer. „Paddy, falls du noch was essen willst, mach das jetzt. Du hast noch eine halbe Stunde, dann hast du deine erste Stunde Krankengymnastik", meinte Patricia, die wie immer den Überblick hatte. Also verschwand auch ich, aber Richtung Küche, wo noch Brot, Butter und Marmelade auf dem Tisch standen. Ich aß schnell etwas und zog mich dann noch um. Da klopfte es auch schon. „Paddy, kommst du", rief Kathy. Sie wollte heute zuschauen, was so mit mir gemacht wurde. Der Therapeut war ein älterer Mann, der mit Papa befreundet war. Er ging mit uns in den Ballettraum, weil wir dort genug Platz hatten. Er schaute sich auch erstmal meine Beine an und teste Reflexe. Dann wollte er sehen, wie ich mich von Rollstuhl auf eine Bank setzte und wie ich mich im Rollstuhl bewegen konnte. „Wir arbeiten erst mal daran, dass du besser sitzen kannst. Das ist momentan das wichtigste. Für deine Beine haben wir auch später noch Zeit. Und ich zeige dir und deiner Schwester Übungen, die du immer machen kannst. Ihr seid ja oft unterwegs und dann können wir nicht regelmäßig trainieren. Aber wenn du gut mitmachst, wirst du auch so Fortschritte machen", erklärte er mir. Ich war ziemlich überfordert und nickte nur. Dann starteten wir mit den Übungen. Kathy musste immer wieder mithelfen, denn ich musste zum Beispiel versuchen, mich aufzusetzen, während sie leicht gegen meinen Oberkörper drückte. Das war ziemlich anstrengend. Nach einigen weiteren Übungen war es endlich geschafft. „So, das wars für heute. Paddy, deine Schwester meldet sich dann wieder, wenn ihr Zeit habt für die nächste Stunde", meinte der Therapeut noch zum Abschluss und ließ sich dann von Kathy nach draußen bringen. Ich fuhr zum Wohnzimmer. Dort saßen Joey und Jimmy. „Und wie wars?", fragte Joey direkt. „Anstrengend. Ich muss mich erstmal hinlegen", antwortete ich. „Leg dich doch hier aufs Sofa", meinte Jimmy und stand auf. Ich nickte und hielt neben dem Sofa an. Jimmy half mir, mich hinzulegen. Ich dank erschöpft auf ein Kissen. Jimmy und Joey blödelten mir gegenüber herum und erzählten mir Geschichten von früher. Meistens ging es darum, was die beiden als Kinder so alles angestellt hatten. Aber sie erzählten mir auch von Mama. Später kam noch Maite zu uns. Die anderen arbeiteten noch im Tonstudio. Sie wollten noch ein paar Instrumente aufnehmen. Bis auf das Lied von Barby war noch kein Gesang aufgenommen. Die meisten Lieder mussten wir noch ein bisschen üben, aber wenn Barby ein Lied schrieb, beherrschte sie es perfekt, wenn sie es uns vorspielte. Barby war da sehr perfektionistisch. Aber genau das war so toll an ihr. Wenn meine große Schwester etwas machte, dann nur zu hundert Prozent. Ganz im Gegensatz zu meinen beiden großen Brüdern, die das personifizierte Chaos waren.
Maite verschwand irgendwann wieder. Sie wollte Abendessen kochen, damit wir alle nochmal zusammen essen konnten, bevor wir später am Abend schon wieder weiterfahren mussten. Die Zeit mit Papa war einfach immer viel zu kurz. Ich wäre so gerne noch länger bei ihm geblieben.

Manchmal kommt alles andersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt