Kapitel 22

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Ich war verkatert und hatte gerade mal drei Stunden geschlafen. Immer wieder dachte ich an das, was gestern passiert war. Oder besser gesagt: an das, was nicht passiert war. Ich hörte eine Tür und zuckte zusammen. Henry huschte aus seinem Zimmer und ging ins Bad. Hatte er mich in der Küche gesehen? Ich nahm mir schnell meine Tasse Kaffee und ging zurück in mein Zimmer. Ich nahm einen Schluck, stellte die Tasse auf dem Nachttisch ab und legte mich in mein Bett. Ich war ziemlich schnell eingeschlafen. Ich wachte auf, weil es an meiner Zimmertür klopfte. Raphi streckte den Kopf herein. „Hast du Lust auf Pizza?", fragte er. Ich stöhnte. Mir war noch ein wenig schlecht, doch etwas Fettiges zu essen klang eigentlich ziemlich gut. Ich nickte also und stand langsam auf. Ich schlurfte in die Küche, wo Henry am Tisch saß und gedankenverloren auf ein Glas Wasser schaute. Als ich gestern aus dem Club verschwunden war, war Henry noch am Tanzen gewesen. Ich hatte auf einmal eine unglaubliche Angst vor einem peinlichen Schweigen – sowas gab es bei uns nicht. Nicht mehr. Also sagte ich schnell etwas, bevor es dazu kommen konnte. „Bist du immer noch wach?", fragte ich also und Henry sah von seinem Wasserglas zu mir. Seine Augen gaben mir die Antwort, bevor er es tun konnte. „Jap", sagte er dann aber noch und senkte seinen Blick wieder auf sein Wasserglas. Es klingelte an der Tür und Raphi nahm die bestellte Pizza entgegen. „Ich hab dir Mais und Pilze bestellt, Skara. Ist okay oder?", sagte er und schob mir meinen Karton hin. „Ist perfekt". Wir aßen ziemlich schweigend. Zumindest Henry und ich. Raphi plapperte munter vor sich hin und ich fragte mich warum zur Hölle ich gestern so viel trinken musste. Ich hatte diese Kater-Stimme im Kopf, die einem sagte, dass man nie wieder trinken würde. Ich glaubte ihr kein Wort und doch trieb sie mich noch ein wenig weiter in diese wehleidige Stimmung, die sich breit gemacht hatte. „Ihr seid echt ne scheiß Gesellschaft", sagte Raphi plötzlich und holte mich zurück an den Küchentisch. Ich hatte absolut nichts von dem gehört, was er erzählt hatte. Henry wirkte wie aus einem Traum gerissen und grinste dann. „Sorry Alter. Ich geh pennen". Dann stand er auf. Er hatte mich kaum angesehen. 

Nachdem Raphi und ich ebenfalls fertig gegessen hatten, beschloss ich einen Spaziergang zu machen. Frische Luft würde mich gut tun und ein wenig Bewegung würde meinen Kreislauf vielleicht ankurbeln. Es war kühl und grau, aber sehr angenehm. Ich steckte die Hände in die Taschen meiner Bomberjacke und stapfte Richtung Spree und Oberbaumbrücke, um dann in Kreuzberg in Richtung Görli weiter zu laufen. Ich wurde nachdenklich und ärgerte mich, dass ich keine Kopfhörer nicht mitgenommen hatte, um meine Gedanken mit Musik zu übertönen. Ich hatte mir geschworen es niemals wieder kompliziert zwischen mir und Henry werden zulassen. Niemals. Morgen, wenn wir beide ausgekatert und ausgeschlafen waren, wäre es doch ohnehin wieder wie immer. Da war ich mir sicher. Zumindest fast. Aber warum beschäftigte es mich dann so? Versuchte mein Unterbewusstsein meine Gedanken von Jelto weg auf ein neues Problem zu zusteuern? Oder war das alles ein Scherz des Schicksals, um mir deutlich zu machen, wie unfähig ich war gesunde Beziehungen zu führe. Das mit mir und Henry, ich hatte das alles so tief in mir vergraben, niemand sprach darüber, es war eine andere Zeit gewesen, wir waren jung und wollten Spaß und – ich blieb wie angewurzelt stehen. „Skara!", hörte ich meinen Namen. Das Schicksal hatte es wirklich auf mich abgesehen. Was zur Hölle wollte es mir sagen? „Skara! Was für ein Zufall". Ich hätte kotzen können. „Hi", brachte ich heraus. Frieder stand vor mir. Seine Hand war fest mit der Hand einer mir nicht unbekannten Person verschränkt. Ihr Gesicht warf mich zurück in die letzten Monate unserer Beziehung. Man, war ich eifersüchtig auf sie gewesen und er hatte mir immer wieder gesagt, dass ich übertreiben würde, dass ich empfindlich sei. Auf dem Sommerfest meiner Eltern war ich so stolz auf mich gewesen, dass ich emotionalen Abstand gewonnen hatte und jetzt? Mir war schlecht und ich hätte heulen können. Ich fühlte mich belogen, was verrückt war. „Wie geht's?", hörte ich mich selbst plötzlich sagen und hätte mich ohrfeigen können. Ich hatte es auch nicht anders verdient.  

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