Kapitel 95

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„Du hast mich seit der Schwangerschaft nicht mehr so gewollt", murmelte Henry, während er abwesend mit meinen Locken spielte. Ich lag auf seiner Brust. Ein zarter Schweißfilm glänzte darauf. Die Decke lag knapp über meiner nackten Hüfte und ich war kurz vorm Wegdösen. „Das gleiche hab ich von dir gedacht", entgegnete ich. Henry schwieg kurz nachdenklich, strich dabei aber sanft über meinen Rücken, meine Arme, wieder meine Locken und dann meine Wange. "Es schien nie der richtige Moment zu sein", sagte er dann. "Aber ich habe dich nie nicht gewollt". Ich vergrub mein Gesicht kurz an seiner Brust, verteilte dann Küsse darauf, ehe ich wieder die Augen schloss und friedlich wegschlummerte. 

„Hey", sagte Henry sanft und gab mir einen leichten Klaps auf den Po. „Pipi machen, bevor du einschläfst". Ich stöhnte und schälte mich widerwillig aus seinem Griff und der Decke. Im Flur traf ich Raphi. Er grinste verschmitzt, als er mich sah und ich wusste, dass er uns gehört hatte, obwohl er nichts sagte. Zurück bei Henry im Bett, meinte ich: „Wir müssen es endlich Raphi sagen". Henry nickte. „Ja, bitte". 

Am nächsten Morgen war ich vor Henry wach und machte Frühstück in der Küche. Ich wusste, dass Raphi erst mittags Uni hatte und vorher eigentlich nie Termine ausmachte. Ich entschied, dass wir es ihm heute sagen würden.

Als ich hörte, wie sich seine Zimmertür öffnete, wurde ich plötzlich unglaublich nervös. Ich glaubte nicht eine Sekunde, dass Raphi unfreundlich oder mit Unverständnis reagieren würde. Dennoch schlug mir das Herz bis zum Hals. Alles würde sich ändern. Raphi, Henry und ich. Seit wir sechzehn waren, waren es immer wir drei. Durch Henrys und meine On-Off-Beziehung der letzten Jahre waren wir in unserer Freundschaft zu dritt ohnehin oft herausgefordert gewesen. Jetzt würden Henry und ich ein Kind bekommen und ich hatte Angst, dass Raphi sich außen vor fühlen würde. Würde er sich von uns entfernen?
"Guten Morgen", sagte Raphi, als er die Küche betrat. "Guten Morgen", sagte ich und versuchte so zu klingen, wie immer. "Ich mach Frühstück für uns drei. Hast du Zeit?'".
Raphi nickte und sagte: "Klar". Dann fragte er nach Henry und ob er ihn wecken sollte und ich nickte, während ich zwei Scheiben Brot in den Toaster steckte.
Als wir kurz darauf alle am Tisch saßen, starrte ich Henry auffordernd an. Er rutschte auf seinem Stuhl hin und her.
Raphi trank ungerührt seinen Kaffee, doch sah irgendwann auf und uns fragend an. "Ist was?".
Ich schluckte. 

"Ehrlich gesagt, Alter", Henry straffte die Schultern, "Skara und ich wollten was mit dir besprechen".
Raphi stellte nun seine Tasse auf dem Tisch ab und sah uns neugierig an. "Ist was passiert?". Er klang besorgt. Henry und ich waren seltsam still und machten ihm vermutlich eine riesen Angst.
"Ehm", machte ich und stoppte. Ich hatte mir gar keine Gedanken darüber gemacht, wie ich es sagen wollte. Ich bin schwanger. Einfach raus. Oder: Henry und ich bekommen ein Kind. Vielleicht auch: Du wirst Onkel.
"Skara und ich bekommen ein Kind", sagte Henry in dem Moment und ich blickte fast erschrocken auf.
Raphi überraschte mich, denn er lächelte und sagte: "Ich weiß".
Henry sah erst mich, dann ihn verwirrt an und ich blickte an mir herunter, als würde man es mir schon so deutlich ansehen und ich hätte es noch nicht gemerkt.
"Herzlichen Glückwunsch, natürlich", sagte Raphi dann und stand auf, um mir einen Kuss auf die Wange zu drücken und Henry in den Arm zu nehmen.
"Wie du weißt?", fragte Henry lahm, als Raphi sich wieder gesetzt hatte.
"Leute ernsthaft jetzt, ich verbringe mein halbes Leben schon mit euch und wir wohnen zusammen".

Irgendwie rührte es mich, dass er so aufmerksam war. Uns so gut kannte."Warum hast du nichts gesagt?", fragte ich und Henry sagte gleichzeitig: "Sorry, dass wir nicht früher was gesagt haben".Raphi winkte ab und lächelte uns dabei so liebevoll an. "Ich dachte mir, ihr sagt es mir schon, wenn ihr soweit seid". Ich nickte. Henry legte seinen Arm hinter meinem Rücken auf der Stuhllehne ab. "Wie lange weißt du es denn schon?". Raphi zuckte mit den Schultern und biss in sein Käsebrot. "Naja mit Sicherheit weiß ich es natürlich erst seit jetzt. Aber ich hab es mir schon ne Weile gedacht". Er kaute zufrieden. Ich lehnte meinen Kopf an Henrys Schulter." Es fühlt sich richtig an, dass du es endlich von uns gehört hast. Ich hab dich lieb", sagte ich dann und meinte es so so ernst.


Am Abend war ich mit Charlotte auf einen Wein verabredet und könnte mich für diese absolut dämliche Kurzschlussreaktion immer noch in meinen eigenen hübschen Popo beißen.
"Du bist selbst Schuld", sagte Henry schulterzuckend, als ich schimpfen vorm Spiegel stand und unsicher an meinem Tshirt zupfte.
"Ich weiß", maulte ich. "Lass mich doch bitte trotzdem jammern".
Er grinste. Dann blickte er nachdenklich. Ich wusste genau, dass er sich fragte, ob ich mich umentschieden hatte. Ob ich die Freundin meines Bruders, die Mutter meiner Nichte, vielleicht doch um Unterstützung bitten würde.

Er sagte aber nichts. Und das war typisch Henry. Er ließ mich machen und drängte nicht. Dennoch gab er mir dabei nie das Gefühl, es sei ihm unwichtig. Er vertraute so fest darauf, dass ich mich schon richtig entscheiden würde und ich liebte ihn dafür, denn ich vertraute mir von Zeit zu Zeit etwas zu wenig.

Als ich die Wohnung verließ, begann es gerade zu dämmern. Ich lief zur U-Bahn und stellte mir kurz vor, dass alles wie früher sei. Früher, also vor dem Moment, als ich in die Augen meiner Gynäkologin gesehen hatte und sie sagen hörte: „Also, der Test war schon richtig. Sie sind schwanger". Ich hatte danach in ihren Mülleimer gekotzt. Vor Schock und Angst und Überforderung. Das hatte ich niemandem erzählt. Nicht einmal Mel.

Charlotte wartete in einer Weinbar am Prenzlauer Berg auf mich. Sie hatte mal hier um die Ecke gewohnt und alles um uns herum, schrie beinahe ihren Namen. Ich fragte mich oft, wie sie es schaffte, immer so ordentlich auszusehen. Ihre Kleider waren faltenfrei, ihre Haare kannten offensichtlich nur gute Tage und in ihren Handtaschen herrschten Ordnung und Sauberkeit. Da flogen keine Kaugummipapiere und Tabakreste, Kassenzettel oder lose Hustenbonbons herum. Alles an Charlotte war ordentlich und als ich sie da so sitzen sah. In dieser Weinbar mit den makellos geputzten Fensterscheiben und hellen Vasen, dachte ich einmal erneut, dass natürlich jemand wie sie es schaffte, ein Kind großzuziehen. Sie hatte schließlich alles im Griff.

Als ich an den Tisch trat, lächelte sie liebevoll und stand auf. „Wie schön, dass es geklappt hat", sagte sie direkt und ich lächelte zurück. Wir umarmten uns herzlich und nahmen Platz. Die Musik war nicht zu leise, nicht zu laut. Crush von Jennifer Paige drang aus den Boxen und sorgte für einen angenehmen Bruch zu der, doch etwas steifen, Deko und ich fühlte mich wohl. Als der junge Mann an den Tisch trat, um uns zu fragen, was wir trinken wollten, schlug mein Herz aber trotzdem mit einem Mal ein paar Takte schneller. Charlotte bestellte irgendeinen hippen Naturwein und freute sich, dass sie nicht stillen musste. Ich schluckte. „Ich brauch noch einen Moment", sagte ich dann. „Bring uns aber gern schon eine Flasche Wasser mit". Er nickte. Eine normale Bestellung. Aber ich hatte begonnen zu schwitzen und entschied, dass es endlich jeder wissen musste. Ich konnte es nicht mehr verheimlichen. Ich musste endlich, endlich mit meinen Eltern reinen Tisch machen.

„Du hattest übrigens Recht", fiel ich mit der Tür ins Haus, nachdem wir einige Minuten locker gequatscht hatten. Charlotte nippte an ihrem Wein und sah mich überrascht an. „Hm?", machte sie verständnislos und stellte das Glas vorsichtig auf dem Tisch ab. Dann blickte sie mich freundlich an.

„Du hattest Recht", sagte ich und atmete tief durch. „Du hast gesagt, dass du dich durch mich an dich erinnert gefühlt hast. An Ostern". Charlotte nickte. Ich sah, dass sie verstand. Sie lächelte und wartete ab, als ich nicht weitersprach, sagte sie: „Danke, dass du das mit mir geteilt hast. Das bleibt natürlich bei mir".

Ich sah sie an und blieb still. Doch dann erzählte ich ihr von den letzten Wochen. Und ich sagte nicht alles, aber viel. Sie unterbrach nicht, aber sie hörte aufmerksam zu und wenn Charlotte verständnisvoll nickte, dann fühlte ich mich plötzlich wirklich verstanden, denn sie hatte diese Gefühle und Gedanken auch gehabt oder so ähnlich und in ihrem Körper war auch ein Mensch herangewachsen und sie hatte diese Panik und diese Liebe und diese Zweifel auch gespürt. Als mein Monolog endete, ging er ganz automatisch in ein Gespräch über und ich war Charlotte sehr dankbar, denn sie war ehrlich. Ich hatte ihr Vertrauen geschenkt, in dem Moment, wo ich mich ihr offenbart hatte und sie schenkte mir nun das gleiche Vertrauen. 

"Als ich schwanger wurde, haben dein Bruder und ich darauf gewartet. Wir wollten das und dennoch, als es soweit war, habe ich alles in Frage gestellt. Ich habe Toni unglaublich vor den Kopf gestoßen und bin komplett ausgeflippt. Ich verstehe dich, Skara und ich habe es bei der Schwangerschaft mit Ella als unglaublich wichtig empfunden, jemanden zu haben, der einen wirklich versteht". Ich nickte und wusste, was sie meinte. Ich griff über den Tisch nach ihrer Hand und bedankte mich bei ihr.

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