Kapitel 105

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In den nächsten Wochen kam der Sommer endgültig nach Berlin. Das Leben änderte sich auf einen Schlag, so wie es immer geschah, wenn die Tage sonnig und die Nächte lau werden. Wir verbrachten eine Menge Zeit draußen und die ganze Stadt strahlte. An jeder Ecke saßen Leute, irgendwie schien fast niemand mehr zu arbeiten und das Leben fühlte sich plötzlich leichter an. Zumindest für die meisten. Der Sommer hatte mir Angst gemacht und ich hatte seinen Beginn weit von mir weggeschoben. Denn der Sommer hieß Abschied nehmen. Mal wieder. Ich hatte es geschafft, die Schwere zu ignorieren, doch nun saß ich mit Bauchweh im Theater. Es war wenig los. Die Wenigsten wollten den ersten oder zweiten Freitag des Sommers im dunklen und kühlen Theatersaal verbringen. Mir kam es recht, denn ich war mit den Gedanken gar nicht bei der Arbeit. Henry hatte einen Termin in Wien. Er würde außerdem den Mietvertrag für eine Wohnung unterschreiben. Es war entschieden. Es stand fest. In sechs Wochen würde er gehen und ich in zehn hinterher. Ich würde mich von Berlin verabschieden. Ich versuchte gerade in mich hinein zu hören, als Mel vor mir auftauchte. "Hi", sagte sie und sah mich lächelnd an. Ich blinzelte überrascht. Sie hatte mich aus tiefen Gedanken geweckt. "Hi". "Bist du fertig?", fragte sie. Ich schaute mich perplex um. Einige Lichter waren bereits aus und die letzten Besucher verließen das Gebäude durch die schwere Vordertür. Ich hatte an der Garderobe einen Dienst übernommen, aber beinahe niemand war mehr mit Jacke unterwegs und so hatte ich genügend Zeit zum Grübeln gehabt.

Ich nickte also und rappelte mich auf. Mel drückte mich an sich und wir liefen zur Ubahn. Wir fuhren zu einer Bar. Freunde von ihr saßen dort im Biergarten.
"Und wer ist alles da?", fragte ich.
"Ferdi und Raphie wollten später kommen", sagte sie.
"Und wer ist alles da?", fragte ich erneut.
Sie grinste. "Kennst du nicht".
"Ich hab keine Lust auf neue Leute. Die schauen dann meinen Bauch an und fragen sich dann später gegenseitig, ob ich nicht ein bisschen jung wäre für ein Kind und ob die anderen sich das vorstellen könnten ... so in unserem Alter". Ich verstellte meine Stimme zum Ende meines Satzes hin und verdrehte die Augen. Mel auch, aber aus einem anderen Grund. Sie war genervt von mir und ich von allen Menschen generell.
"Du warst ja früher schon maulig, aber seit du schwanger bist, bist du echt manchmal unerträglich". Ihre Worte waren ganz schön hart, aber das war okay, denn ich wusste, dass sie es nicht so richtig ernst meinte und ich wusste auch, dass sie ein bisschen Recht hatte.
"Gut, gut", ich hob die Hände beschwichtigend. "Aber ich werde Leo anrufen und ihn dahin bestellen, wenn er noch nichts vor hat".
Mel nickte schmunzelnd.
Sie wusste, dass Leo beinahe alles tun würde, um das ich ihn bat. Das hatte er schon früher, aber seit ich ihn zum Onkel machte, kannte seine Liebe keine Grenzen.
Ich rief ihn an und er sagte zu. Es müsse zwar später weg, aber das wäre ja kein Problem, weil bis er feiern ging, würde ich ohnehin heim ins Bett wollen. Das stimmte wohl.

Der Biergarten war bis auf den letzten Platz besetzt und wären Mels Freunde nicht schon da, hätten wir keine Chance auf einen Tisch gehabt. Es war eine schöne Stimmung. Essen und Trinken stand auf den Tischen und zwischen den Baumkronen, die die Ränder des kleinen Gartens markierten, hingen warm leuchtende Lichterketten.
Als wir uns setzten, stellte Mel mich vor und alle waren nett und lächelten und sagten ihre Namen, die ich vergaß, weil ich so nervös war. "Wollt ihr was trinken?", fragte ein junge Frau mir gegenüber, sie hieß Caro oder Cara oder so ähnlich und hob ihre Hand, um der Bedienung ein Zeichen zu geben. Mel bestellte einen Wein und ich bestellte ein alkoholfreies Bier. "Sorry, sag mir doch deinen Namen nochmal", schaffte ich irgendwann zu sagen, als Cara oder Caro angefangen hatte zu erzählen, dass sie mit Mel ein Seminar hatte. Sie grinste ganz lieb und sagte "Cara". Ich grinste zurück und ich fühlte mich wohl, das war schön. Es ging um das Seminar und es ging um den Sommer und es ging irgendwann auch um Caras Exfreund und um Urlaub in Italien und um Tizian und Gianna und das Reden war leicht und es tat gut einen ganz normalen Abend zu verbringen und ich vergaß für eine Weile, dass ich bald weg sein würde und, dass Henry gerade in Wien war und, dass ich ständig Angst hatte, mich zu verlieren. 

Leo tauchte auf und begrüßte mich mit einem zärtlichen Kuss auf den Kopf und ich lehnte mich beim Sitzen auf der Bank an ihn und er erzählte eine Geschichte, die den ganzen Tisch zum Lachen brachte und wir stritten halbherzig über Details, wie es Geschwister taten und der lange Abend zog sich in die Nacht und die Gespräche wurden irgendwann tiefsinniger, aber die Sorgen des Alltags schienen irgendwie für eine Weile in der Wärme dieser lauen Sommernacht zu verschwinden.

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