Kapitel 96

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Nach dem Treffen mit Charlotte vergingen zwei Wochen, bis ich meine Eltern anrief und in die WG einlud. Jeden Tag wurde es ein bisschen wärmer und der Sommer rückte näher. Mir machte das eine unglaubliche Angst, denn mit dem Sommer, kam der Umzug. Langsam mussten Henry und ich entscheiden, wer von uns, was tun würde. Doch jedes mal, wenn wir auf das Thema Wien kamen, bekamen wir uns in die Haare.
"Diesen Sonntag, ja?", fragte Henry, als ich mich von meinem Papa verabschiedet und aufgelegt hatte. Ich nickte. „Wird schon", sagte er, aber seine Augen sagten etwas anderes.

Meine Eltern konnten Henry nicht leiden, zumindest konnten sie unsere Beziehung nicht leiden. Das hatten sie mehr als klar gemacht. Ich wusste, wie ungern er zu mir nach Hause ging, auch wenn er es nie gesagt hatte. Jetzt würden wir ein Kind bekommen. Ich hatte weder einen Abschluss, noch einen "anständigen" Job und Henry war Künstler, was meine Eltern eher für ein Hobby als Arbeit hielten. "Mhm", machte ich und lehnte mich an die Küchenablage. Mir war plötzlich ganz schön schwindlig. Henry kam besorgt einen Schritt auf mich zu, dann klingelte es. 

Er ging zur Gegensprechanlage im Flur, ich nippte an einem Glas Wasser. Kurz darauf hörte ich Evys fröhliche Stimme im Flur. "Wir dachten wir kommen einfach mal vorbei, passt es?", sagte sie, als Henry sie überrascht fragte, ob alles okay sei. Dann hörte ich noch eine Stimme. Leo. Ich hatte ihn ewig nicht gesehen.  Henry hatte mir vor einiger Zeit erzählt, dass er es Leo bereits erzählt hatte. Er hatte mit jemand darüber sprechen müssen und sein Bruder war immer für ihn da. Wie lieb ich ihn hatte. Ich war dankbar, dass Henry die Möglichkeit hatte mit jemandem außer mir zu sprechen.

"Naaaa Mutti", flötete er frech grinsend und schlitterte auf Socken in die Küche. Er umarmte mich fest und ich schmiegte mich an ihn. "Wie geht's dir?", fragte er dann ehrlich und musterte mich. "Siehst bisschen blass aus". Ich seufzte lächelnd. "Alles gut. Hab nur gerade mit meinem Papa telefoniert. Meine Tage sind ab jetzt offiziell gezählt". Leo pfiff durch die Zähne. "Wann ist es soweit?". Henry und Evy betraten ebenfalls die Küche. "Sonntag", sagte er. Evy nickte. "Soll ich mitkommen?", fragte sie dann und ich hätte sie knutschen können. Henry verdrehte die Augen. "Quatsch", sagte er bestimmt. "Wir schaffen das schon. Wir sind schließlich erwachsen".

Es fühlte sich so an, als müsste er es sich selbst nochmal sagen.

Es war Nachmittag und wir setzten uns auf den Balkon, um gemeinsam einen Kaffee in der Sonne zu trinken. Henry war morgens bereits im Atelier gewesen und hatte den Rest des Tages keine festen Termine. Ich hatte mich fürs neue Semester in wenige Veranstaltungen eingeschrieben und hatte freitags nun mal wieder frei. Evy quatschte fröhlich vor sich hin und es fühlte sich so leicht an. Sie erzählte von ihrer Schwangerschaft mit Henry, der genervt den Kopf schüttelte. Überrascht stellte ich fest, dass ich mich freute. Leo stand ganz selbstverständlich auf, als er sich eine Kippe drehte und stellte sich abseits, um sie zu rauchen.

"Ich muss es fragen, es tut mir Leid", sagte Evy plötzlich und sah auf einmal ganz schön zerknirscht aus. Henry setzte sich etwas aufrechter hin und blickte seiner Mutter neugierig, aber auch angespannt entgegen. Ich stellte meine Kaffeetasse vorsichtig auf dem Tisch ab. Leo stöhnte und setzte sich wieder zu uns. "Jaja", machte Evy in seine Richtung und wedelte unwirsch mit ihrer Hand, Henry schmunzelte kurz, als Leo die Augen verdrehte. Dann sagte Evy an Henry und mich gewandt: "Leo hat es mir verboten. Aber es geht hier um mein Enkelkind, also habe ich doch das Recht es zu fragen". Sie stockte, ich zog meine Augenbrauen hoch. "Was denn, Mama?", fragte Henry ungeduldig, als sie nicht weitersprach.

"Wo wird es denn nun aufwachsen? Wo wird es zur Welt kommen? Wo werdet ihr leben?". Ich seufzte. Natürlich wollte sie es wissen. Es war nur nicht so leicht zu beantworten. Henry verschränkte trotzig die Arme vor der Brust und erwiderte ehrlich genervt. "Na das klär mit Skara". Ich sah ihn empört an. "Schieb das jetzt nicht mir in die Schuhe!". "Wer hat mir denn verboten Wien abzusagen?". "Verboten! Als ob du dir was verbieten lassen würdest". Ich schnaubte. Henry hob aufgebracht die Arme, ließ sie wieder fallen und rief beinahe verzweifelt: "Dann lass mich hier bleiben" und ich rief zurück: "Dann lass mich mitkommen!".

"Ich hab dich ja gewarnt", hörte ich Leo seiner Mutter zuflüstern und Henry schob ruckartig den Stuhl zurück. Er stand auf, stellte sich ans andere Ende des Balkons und drehte sich eine Zigarette. "Fick dich", murmelte ich leise und er zeigte mir den Mittelfinger.

"Na hört mal!", Evy sah uns kopfschüttelnd an. "Es geht nicht mehr nur um euch. "Ich weiß das", rief Henry von seiner Position aus. "Deswegen wäre es am besten ich bliebe hier". Er zog an seiner Kippe, blies den Rauch in den Himmel. Ich verdrehte die Augen und schlug energisch die Beine übereinander. "Ich", sagte ich betont in Henrys Richtung, "weiß das auch". Dann zeigte ich auf meinen Bauch, der tatsächlich langsam andeutete, dass darin etwas geschah. "Es wohnt nämlich in mir. Und deswegen hab ich das verdammte Recht dir zu sagen, dass du deinen Traum nicht aufgeben wirst! Und wir eben mitkommen nach Wien".

Henrys Mine wurde sanfter, er schnippte seine Zigarette weg, was seine Mutter mit einer hoch gezogenen Augenbraue quittierte und trat hinter meinen Stuhl. Zärtlich legte er seine Hände auf meinen Schultern ab. "Skara. Ich weiß, dass du nur das Beste für mich willst. Aber das Beste für mich ist gerade das Beste für uns. Und das ist nun mal in Berlin bleiben, gemeinsam".

Evy sagte nichts. Sie sah ihren Sohn liebevoll an. Ich atmete hörbar durch die Nasenflügel aus. Ich wusste, dass Henry einen guten Punkt hatte, aber ich konnte nicht nachgeben. Vor allem wollte ich nicht, dass uns seine Familie bei diesem Gespräch zu sah und mit einem Mal wurde ich wütend auf Evy, obwohl sie nichts dafür konnte. Aber sie hatte es angesprochen und diesen Stein mal wieder ins Rollen gebracht.

Ich schüttelte Henrys Hände ab und stand auf. "Ich will darüber jetzt nicht reden", sagte ich bestimmt. "Ich geh rein". Dann drehte ich mich um und verließ den Balkon. Ich wusste, dass ich sonst Sachen sagen würde, die ich nicht so meinte. 

"Na toll, Leute", hörte ich noch Leo sagen. 

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