Kapitel 35

43 5 2
                                    

Der Winter hatte in Berlin Einzug gehalten. Es war klirrend kalt und als ich am Morgen aus dem Fenster gesehen hatte, lag eine dünne weiße Schichte auf den Dächern in meiner Nachbarschaft. Jetzt war es halb zehn und ich war genau pünktlich los gekommen. Ich würde heute weder gehetzt, noch zu spät auf an der Uni ankommen. Heute war ein guter Tag. Ich sah grinsend in den blauen Himmel und rückte meine Mütze zurecht. Die letzten Stufen vor unserem Haus legte ich hüpfend zurück und hörte die schwere Tür hinter mir zuschlagen.
Ich schlenderte gemütlich bis zur U-Bahnstation, holte mir einen Kaffee zum Mitnehmen, dann quetschte ich mich – immer noch gut gelaunt – in die gerade eingefahrene U-Bahn.
Heute würde nichts meine Laune trüben können. Es war endlich Winter. Bald Weihnachten. Ich stieg an meiner Haltestelle aus und lief zum Campus. Ganz verzückt sah ich um mich herum und bewunderte das weiße Berlin. Nicht lange würde es so bleiben, bald schon wird der Schnee von den Dächern tauen und auf den Straßen zu einer grauen Suppe werden. Ich zog mein Handy aus der Tasche meiner Bomberjacke, die sich als etwas zu dünn heraus gestellt hatte und wollte ein Foto knipsen, als ich einen verpassten Anruf von meinem Bruder auf dem Display aufblinken sah. Schnell rief ich zurück, denn ich ahnte bereits, was los war. „Skara!", er ging ran und als ich seine Stimme hörte, drehte ich bereits wieder um und lief zurück zur U-Bahnstation. „Das Baby kommt", sagte er dann. Ich wurde Tante. Konnte dieser Tag denn noch besser werden?

Das plötzliche Schneechaos brachte Berlin völlig aus dem Konzept. Wer hätte auch ahnen können, dass es im Dezember schneite?
Meine Eltern und ich brauchten also eine Ewigkeit bis nach Potsdam und als wir ankamen war die kleine Ella schon auf der Welt. Mein Bruder und Charlotte strahlten über beide Ohren, als wir das Krankenhauszimmer betraten. Ella lag in den Armen meines Bruders. Ein kleines, rotes, zerknautschtes Wesen. Meine Eltern stürmten regelrecht auf Toni zu und sahen ihm verzückt über die Schulter. Ich setzte mich an den Rand von Charlottes Bett. Die hellbraunen Haare hingen ihr zerzaust ins Gesicht. Sie hatte geweint, vermutlich vor Schmerz und vor Glück. „Wie geht es dir?", fragte ich flüsternd. Sie seufzte. „Skara, ich rate dir eins", sie sah mich ernst an, doch ein Lächeln umspielte ihre etwas spröden Lippen. „Verhüte!". Ich lachte.
„Nein im ernst, mir geht es gut. Ella ist gesund und munter und ich hoffe, dass ich das da unten auch bald wieder bin". Sie lachte und ich verzog schmerzverzehrt das Gesicht, während sie in die Richtung ihres Intimbereichs zeigte.
„Scheiße, nach den ersten paar starken Wehen hab ich deinen Bruder angeschrien, wie noch nie", erzählte sie weiter und Toni horchte auf. Er grinste. „Sie hat nach jedem Schmerzmittel dieses Krankenhauses geschrien". Meine Mutter lachte wissend. „Glaub mir Charlotte", sagte sie dann und sah die Mutter ihrer Enkelin mit liebevollem Blick an. „Diese Schmerzen sollte niemand aushalten müssen. All diese jungen Frauen, die meinen, das gehöre dazu", sie fasste sich an die Stirn. „Hört auf mich, das tut es nicht!". Mein Vater konnte noch immer nicht die Augen von Ella nehmen. Er sagte so klassische Sachen, wie „Na die habt ihr aber gut hinbekommen", aber sein Blick heftete verträumt auf seiner Ekeltochter und Toni und Charlotte schienen vergessen. „Ihr macht mir das Gebären ja nicht gerade schmackhaft", murmelte ich und stand nun auf, um mir die süße Ella auch mal anzuschauen. Und verdammt, wenn man in dieses winzige Gesichtlein sah, da wurde mir doch ganz warm. „Verdammt", sagte ich. „Wie süß kann denn so ein kleiner Haufen Mensch sein". Meine Mutter sah mich tadelnd an. Toni lachte hingegen und fragte dann, zur Empörung meines Vaters. „Magst du sie mal halten?".
Ich sah erst meinen Bruder, dann Charlotte mit großen Augen an. „Äh". Da drückte er mir auch schon Projekt X aka Ella in den Arm. Er zeigte mir, wie ich ihren Kopf stützen sollte. Wie ein rohes Ei hielt ich sie und schwor mir in diesem Moment, dass ich ihr für immer zur Seite stehen würde. Sie war so unschuldig, so zart, so ... so ... so keine Ahnung.
Ich war verzaubert und fand mich komischerweise gar nicht albern. Naja, ich hatte sie ja auch nicht aus mir rauspressen müssen.
„Und, habt ihr euch schon von eurem Schlaf und eurem Seelenheil verabschiedet?", fragte mein Papa dann und er und meine Mutter lachten herzhaft. Ich glaube, so kann man nur lachen, wenn man genau weiß, was auf Toni und Charlotte zukommen würde. 

TrifoliumWo Geschichten leben. Entdecke jetzt