Stille.
Es war so still, dass ich es kaum wagte zu atmen.
Meine Eltern sagten nichts. Gar nichts. Und das war schlimmer, als alles, was ich mir vorgestellt hatte.
Toni ergriff das Wort, als ihm klar wurde, dass weder unsere Mutter noch unser Vater so bald etwas sagen würde.
"Das sind ja tolle Neuigkeiten, ihr Beiden", sagte er und legte Henry eine Hand auf die Schulter. "Ich freu mich für euch". Er stand auf, reichte Ella an Charlotte und kam zu mir. Ich schob wie ferngesteuert meinen Stuhl zurück und ließ mich von meinem Bruder in seine Arme ziehen. "Ich freu mich", wiederholte er an meinem Ohr. "Ich hab dich so lieb". Er drückte mich ganz fest und ich schaffte es nicht ihn zurück zu drücken.
Ich war so fassungslos von meinen Eltern, dass ich nicht wusste, ob ich weinen oder schreien sollte.Charlotte nahm Henry in den Arm und gab mir einen Kuss auf die Wange. "Ich bin stolz auf dich", flüsterte sie. Doch ich hörte sie kaum.
Als wir uns wieder setzten, sah ich meine Eltern auffordernd an.
Mein Vater sah aus, als hätte ich ihm gesagt, dass ich totkrank sei und meine Mutter musterte Henry, als sei es allein seine Schuld.
"Es muss euch ja nicht gefallen, aber ihr könntet schon mal was sagen", sagte ich nach einer Weile und hasste es, dass meine Stimme mittlerweile gar nicht mehr so souverän klang.
Meine Mutter schien aus einer Starre zu erwachen. "Wie stellt ihr euch das denn vor?", fragte sie.
Bis zu diesem Zeitpunkt dachte ich nicht, dass ich noch fassungsloser sein konnte. "Bitte?", meinte ich. "Das ist das erste, das dir dazu einfällt?". Provokativ blitzte ich sie über den Tisch hinweg an. Weinen wollte ich nun nicht mehr. Ich wollte schreien. Sie anschreien!
Henry hatte seine Hand nun auf meine gelegt. "Wir hoffen natürlich, dass ihr euch für uns freut, aber wir verstehen auch, wenn ihr euch etwas anderes gewünscht hättet".
Er sprach so diplomatisch, so höflich. Ich wusste, dass er das nur für uns tat. In diesem Moment liebte ich ihn so sehr.
Aber er sollte sich nicht zurück nehmen müssen. Er sollte ruhig sagen, was er hiervon hielt.
"Was anderes gewünscht", wiederholte mein Vater nachdenklich, doch meine Mutter unterbrach ihn: "Ich hätte mir gewünscht, dass meine Tochter nicht ihr Leben wegwirft. Für ... für dich", anklagend zeigte sie auf Henry. "Du hast keine Perspektive und ziehst meine Tochter mit runter! Das hast du früher schon getan!".
"Liebling", sagte mein Vater beschwichtigend. Sie beachtete ihn nicht, sondern setzte an unwirsch weiterzusprechen.Ich sah meiner Mutter fest in die Augen.
"Raus", sagte ich ruhig, aber bestimmt.
"Was?", fragte sie überrumpelt zurück.
"Raus".
"Skara", hörte ich Henrys Stimme. Ganz sanft. "Nein", Ich schüttelte den Kopf und sah ihn an. "So spricht sie nicht mit dir. Niemals und erst recht nicht in unserer Wohnung".
Ich sah zurück zu meinen Eltern. Toni und Charlotte sagten kein Wort.
Mein Vater war aufgestanden, doch meine Mutter blickte mich empört an. Ich nahm all meine Selbstbeherrschung zusammen und sagte durch zusammengebissene Zähne: "Ich möchte, dass ihr geht. Jetzt".
Und sie gingen.
Ich sah sie nicht mehr an. Ich blieb sitzen und starrte auf meine Hände, bis ich hörte, wie die Wohnungstür mit Nachdruck ins Schloss gezogen wurde.
Dann war es wieder still.
Ganz still.
Ella begann zu quengeln und erinnerte mich daran, dass ich nicht allein da saß. Toni und Henry waren aufgestanden, doch Charlotte saß noch immer neben mir. Die kleine Ella wand sich in ihren Armen.
Ich blickte auf. Charlotte sah mich ruhig an.
Dann fing ich an zu weinen.Ich ließ meinen Kopf auf den Küchentisch sinken und schluchzte.
"Skara", flüsterte Charlotte und strich mir über den Rücken. Doch ich hatte keine Lust zu antworten und selbst wenn ich es gewollt hätte, mir wäre sicher kein klares Wort über die Lippen gekommen. Ich weinte, schnappte nach Luft, was nicht so leicht war, denn mein Mund war nur knapp über der Tischplatte und ich saß ganz gekrümmt da.
In mir tobten die Gefühle. Ich war wütend, traurig, verzweifelt und noch einmal wütend. Vorallem aber wohl enttäuscht. Ich hatte befürchtet, dass ich mich nach dem Gespräch mit meinen Eltern so fühlen würde, aber irgendwie hatte ich doch gehofft, dass sie anders reagiert hätten. Dass sie sich neben all dem, was sie daran auszusetzen hatten, doch für mich freuen würden. "Skara", sagte nun Toni. Ich reagierte noch immer nicht. Wo war Henry? Es musste ihm furchtbar gehen. Ich musste zu ihm. Ich hob endlich den Kopf, hörte auf zu weinen und wischte mir mit den Fingern die tränengenässten Wangen.„Wo ist Henry?", fragte ich. Er war aus der Küche verschwunden.
„Draußen", sagte Toni und nickte in Richtung Balkon. Ich sah ihn durch die geschlossene Glastür. Er stand im Nieselregen und telefonierte.
Mit der einen Hand hielt er sich das Handy ans Ohr, mit der anderen fuhr er sich über die kurzen blonden Haare. Eine Kippe hing in seinem Mundwinkel. Er sah so bedrückt aus und traurig.
„Ich", begann ich und sprach nicht weiter, sondern ging einfach zu ihm.
„Hey", flüsterte ich. Er drückte die Zigarette aus und streckte seine freie Hand nach mir aus. Ich schloss meine Arme fest um seinen Oberkörper und vergrub das Gesicht in seinem Shirt.
„Leo, ich leg auf", sagte er und steckte sein Handy kurz danach in die Hosentasche, dann umarmte er mich liebevoll.„Tut mir leid", murmelte ich. „Tut mir leid, dass meine Eltern solche Kotzbrocken sind".
„Hör auf", bat Henry. „Du kannst nichts dafür, wie dieses Gespräch gelaufen ist. Es ist eher meine Schuld".
Ich zog meinen Kopf etwas zurück, um ihn von unten ansehen zu können, aber ohne meine Arme zu lockern.
„Wenn hier jemand keine Schuld an dieser verkorksten Beziehung zwischen mir und meinen Eltern hat, dann du". Ich versuchte mich an einem kleinen Lacher. Er hörte sich mehr als traurig an.
Henry blieb ernst.
„Aber deine Mutter hatte dennoch irgendwo einen Punkt", er zögerte und löste sich aus der Umarmung.„Ich hab keine Kohle, keinen richtigen Job, keinen Uniabschluss. Ich hab mein ganzes Leben so aufgebaut, dass ich damit zurecht komme. Aber doch nicht so, dass ich damit eine Familie haben kann. Ich kümmere mich um nichts, Skara. Ich hab nie ein Handy ohne zerbrochenen Bildschirm, meinen Laptop hab ich schon zwei mal in der Bahn vergessen. Zwei mal! Wem passiert sowas? Ich rauche, nehme viel zu oft Drogen, vor nem Jahr wurde ich beim Sprayen erwischt und du hast mich bei den Bullen abgeholt", er hatte sich in Rage geredet, doch stockte nun. „Scheiße, ich weiß nicht mal wo mein Impfpass ist".
Ich musste breit grinsen. „Henry", lachte ich und oh Mann, ich liebte es, wie er mir in jeder Situation die schweren Gefühle nehmen konnte und alles irgendwie leicht machte.
„Ja okay, das stimmt, aber das lieb ich alles an dir. Und ich könnte dir Bücher darüber schreiben, um wie viel du dich dennoch kümmerst. Du hast in dieser Wohnung jede Lampe, jedes Regal und jedes Bild aufgehängt. Du hast die Waschmaschine repariert. Du erinnerst mich jeden Monat an die Miete, weil ich es seit Jahren vergesse einen Dauerauftrag einzurichten. Du kennst den Geburtstag von jedem unserer Freunde, du bist ein unglaublicher Künstler, du bist feinfühlig, sensibel und trotzdem nimmst du nichts schwer. Du machst mich besser, Henry und mit niemand anderem, als dir würde ich ein Kind haben wollen. Ich kann mich seit mehr als zehn Jahren auf dich verlassen, egal wie wir zueinander standen, du warst immer für mich da", ich strich ihm sanft über seinen Kopf, seine Wangen, seine Schultern. „Und dein Impfpass liegt in diesem alten Schuhkarton unter deinem Bett, neben dem Reisepass".
Henry verdrehte grinsend die Augen.
„Natürlich weißt du das".
Er küsste mich fest. Und ich schmiegte mich ganz eng an ihn.Dann nahm ich ihn an der Hand und wir gingen wieder rein.
Toni und Charlotte saßen mit Ella auf dem Sofa in unserer Küche.
„Leute", meinte Toni und stand auf, als wir hereinkamen. „Das war unglaublich daneben, was die Eltern da gerade abgezogen haben". Er schüttelte den Kopf, als könnte er es nicht glauben. „Aber auf uns könnt ihr zählen".
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Trifolium
General FictionSkara sucht Abwechselung und findet Jelto. Die beiden verbringen einen gemeinsamen Sommer. Doch auch dieser Sommer endet irgendwann und mit ihm die gemeinsame Zeit. Schnell stellt Skara fest, dass sie eigentlich viel mehr braucht als einen Flirt, u...