Am liebsten wäre ich an einem anderen Ort gewesen. Ganz egal wo, nur nicht hier. Die Blicke der anderen konnte ich nicht ertragen. Raphi sah mich an und ich hörte beinahe sein „Hab ich dir doch gesagt" in meinem Kopf. Leo legte mir eine Hand aufs Bein. „Nun geh ihm hinterher", flüsterte er, doch es konnte eh jeder hören. Meine Gefühle sprangen unkontrolliert zwischen Wut, Schmerz und Nervosität hin und her. Ich spürte, dass ich den Kopf schüttelte, doch ich erinnerte mich an Raphis Worte heute Morgen auf dem Balkon. Was war, wenn er Recht hatte und es zwischen Henry und mir dieses mal wirklich nicht so glimpflich ausgehen würde, wie bisher. Ich ließ den Kopf kurz genervt in den Nacken fallen und stöhnte. „Hab ich was falsches gesagt?", fragte Lothar dann und Evy brachte ihn durch einen Zischlaut zum Schweigen. Ich stand auf und ging Henry nach. Er saß in seinem alten Zimmer, was mittlerweile das Musikzimmer seiner Mutter war, auf dem Boden und lehnte mit dem Rücken an der Wand unterhalb des großen Fensters. Früher hatte dort ein kleines Sofa gestanden. So oft hatten wir darauf gekuschelt und geknutscht während wir unsere Lieblingsplatten hörten. Ich schloss seine Zimmertür leise hinter mir und setzte mich dann mit Abstand neben ihn auf den Boden. „Was ist los?", fragte ich fast flüsternd. Henry schüttelte den Kopf. „Sprich mit mir", forderte ich. Ich hielt es nicht aus. Er sollte endlich ehrlich sein.
„Ich ertrage nicht, wenn du mit anderen Kerlen schläfst", murmelte er dann und fuhr sich mit beiden Händen übers Gesicht. Er sah mich nicht an. Ich wartete darauf, dass er fortfuhr. Ich wusste nicht, was ich denken sollte. „Das ist so dumm, Skara. Ich weiß. Aber ich, ich pack das nicht mehr. Diese Sache zwischen dir und Jelto, ich hab das akzeptiert, weil du so glücklich warst, aber sowas wie letzte Nacht", er stoppte und ich schluckte.
„Aber du und Pia", begann ich zögerlich und er unterbrach mich verzweifelt: „Ich hab nichts mit Pia. Gott, Skara! Wie könnte ich denn, wenn ich dich jeden Tag sehe!".
Ich stockte. Meine Gedanken prallten aufeinander. Dann war da Stille.
Ich glaube so fühlt sich ein mentaler Autounfall an.
Henry sprang auf und ich auch. Er wollte gehen.
„Ich wünschte ich hätte nicht mir Jakob geschlafen", sagte ich ganz schnell und ohne zu denken.
„Ich hab mich abgelenkt... Ich dachte du bist mit Pia ... Leo hat doch, also du", ich brachte keinen klaren Satz heraus, doch es reichte dafür, dass er stehen blieb und sich umdrehte. „Ich wollte doch nicht diesen Jakob, ich wollte doch dich", sagte ich dann. Meine Stimme war laut und fest und während ich es sagte, begann mein Herz immer schneller zu klopfen, weil es stimmte. Ich wollte ihn. Ich konnte es nicht mehr zurücknehmen, ich hatte es gesagt, er hatte es gehört.
Dann ging alles ganz schnell. Seine Hände lagen an meinen Hüften, drückten mich an die Zimmerwand, meine Arme schlangen sich beinahe automatisch um seinen Hals, seine Lippen lagen auf meinen.
Es kam mir vor, als würden wir in Flammen aufgehen.
Seine Hände waren plötzlich überall. Meine zogen an seinen Haaren.
Diese Spannung, die die letzten Wochen zwischen uns geherrscht hatte - Jetzt entlud sie sich. Wie ein Blitz, ein Kurzschluss zweier Kabel. Es musste so kommen und ich hatte rein gar nichts dagegen.
Dann lösten wir uns so plötzlich voneinander, wie der Kuss begonnen hatte. Henry trat einen Schritt zurück. „Fuck", sagte er und brachte mich damit zum Lachen. Auch auf seinem Gesicht breitet sich ein Lächeln aus. „Ich –", setzte ich an, da ging die Tür auf. „Gut, ihr lebt beide noch", bemerkte Leo und zwinkerte uns zu. „Wir haben uns schon Sorgen gemacht". Henry verdrehte die Augen und warf seinem Bruder einen zutiefst genervten Blick zu. Da fiel mir ein, dass ich ja noch sauer auf ihn war. „Du", ich zeigte mit dem Finger drohend auf Leo. „Warum erzählst du deinem Vater, dass Henry was mit Pia hat?".
„Du hast was?". Henry sah fassungslos aus. Dann sah er so aus, als würde Leo gleich eine verpassen. Was durchaus nicht abwegig war, die zwei hatten sich auch früher schon oft geprügelt.
„Hey, Hey", Leo hob abwehrend die Hände, sein dämliches Grinsen noch immer auf den Lippen. „Ich hab nur gesagt, dass es da ein Mädchen gibt". Ich zog irritiert die Augenbrauen zusammen und auch Henry sah seinen Bruder abwartend an.
„Und das stimmt ja auch", ergänzte Leo dann und sah vielsagend zwischen Henry und mir hin und her.
Henry stöhnte auf. „Man Leo", er rieb sich die Schläfen, grinste aber dabei. Beim Verlassen des Zimmers gab ich Leo einen Klaps auf den Hinterkopf. „Vollidiot, du bist Schuld, dass ich mit Jakob gebumst hab", schimpfte ich und Leo lachte laut auf. Ich selbst konnte mir auch ein Grinsen nicht verkneifen, Henry verzog gespielt das Gesicht. Dann gingen wir alle drei zurück ins Wohnzimmer.Raphi, Evy und Lothar taten ganz uninteressiert und unterhielten sich gespielt angeregt über irgendetwas Belangloses. Lothar füllte unseren Glühwein auf und holte endlich das versprochene Weihnachtsbrot. Ich ließ mich gemeinsam mit Leo auf das Sofafallen, Henry setzte sich auf die Lehne und drehte sich eine Zigarette. Ich trank schweigend meinen Glühwein, während sich die anderen beiden wieder am Gespräch beteiligten. Meine Lippen prickelten noch immer. Henry und ich hatten noch eine ganze Menge zu besprechen, aber wenigstens für den Moment genoss ich die Ruhe, die sich kurz in mir breit machte. Henry zündete sich seine Zigarette an und reichte sie nach ein paar Zügen an mich weiter. Bei Evy und Lothar durfte, seit Henry und Leo Teenager waren, überall in der Wohnung geraucht werden. Ich nahm die Zigarette entgegen und rauchte sie weiter. Das war ein bisschen, wie früher. Und das fühlte sich irgendwie gut und schlecht zugleich an.
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Trifolium
General FictionSkara sucht Abwechselung und findet Jelto. Die beiden verbringen einen gemeinsamen Sommer. Doch auch dieser Sommer endet irgendwann und mit ihm die gemeinsame Zeit. Schnell stellt Skara fest, dass sie eigentlich viel mehr braucht als einen Flirt, u...