Kapitel 83

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Während ich im Bett lag und mir den Kopf darüber zerbrach, was Henry von meinem Monolog und dem darauf gefolgten überstürzten Abgang hielt, hörte ich seine und Raphis Stimmen undeutlich durch meine Zimmertür.
Die zwei unterhielten sich eine ganze Weile und ich widerstand dem Drang, an der Tür zu lauschen, nur mit aller größter Mühe.
Irgendwann verstummten sie und ich hörte wie die Badezimmertür geschlossen wurde, kurz darauf ging die Dusche an.
Ob Henry heute Nacht bei mir schlafen würde?
Ich sehnte mich nach einer seiner Umarmungen.
Ich warf ein Blick auf mein Handy. Es war gerade mal halb 8, er würde sicherlich noch überhaupt nicht Schlafen gehen.
Doch ich war müde und vorallem war ich nicht bereit, diesen Tag länger als nötig zu ertragen.

Ich hatte mich in meine Bettdecke eingerollt und
mich mit dem Rücken zur Zimmertür in meinen Kissen vergraben, als es klopfte. Ich murmelte ein leises "Ja?" und drehte mich um.
Henry kam herein. Er trug ein frisches Shirt, Schmuck und roch nach Parfüm.
"Willst du schon schlafen?", fragte er und setzte sich auf meine Bettkante.
Ich zuckte mit den Schultern.
Er sah mich nachdenklich an und ich biss mir auf die Unterlippe.
Ich wäre gern an ihn heran gerutscht, aber irgendetwas sagte mir, dass er es nicht wollen würde.
"Ich bin verabredet, ich kann das nicht Absagen", meinte er dann.
"Musst du doch auch nicht", antwortete ich.
"Ich habe wirklich keine Lust da hin zu gehen". Er schien eher mit sich selbst, als mit mir zu sprechen.
Er spielte mit einem der silbernen Ringe an seinen Fingern und seufzte. "Ich brauch irgendwie Zeit für mich".
Ich schluckte. Wie meinte er das denn jetzt?
Heute Abend oder generell?
Henry zog sein Handy aus der Hosentasche, stöhnte genervt und stand auf.
"Ich muss los, brauchst du was?".
Überrascht schüttelte ich den Kopf.
Seine Stimme war nüchtern. Hatte er das Gefühl, das fragen zu müssen?
Er blieb im Türrahmen noch einmal kurz stehen, drehte sich um, stockte, sagte nichts und verschwand dann doch im Flur.

Ich wachte mitten in der Nacht auf, weil die Wohnungstür mit Schwung ins Schloss fiel. Daraufhin polterte es einmal kurz und Henry fluchte.
Verschlafen rieb ich mir die Augen und schlug die Decke zurück, um aufzustehen.
Nur mit einem dicken Hoodie bekleidet, tapste ich barfuß durch mein Zimmer und öffnete die Tür.
Henry lehnte schwankend an der Wand und streifte sich seine Sneaker von den Füßen.
Überrascht sah er auf.
"Sorry", sagte er undeutlich. "Ich wollte dich nicht wecken".
Ich winkte ab.
"Hattest du einen schönen Abend?", fragte ich und hängte seine Jacke auf, die er anscheinend achtlos auf den Boden geworfen hatte.
Er blies die Wangen auf und ließ dann die Luft langsam entweichen.
"Ja, schon".
Er hatte es endlich geschafft seine Schuhe auszuziehen ohne umzufallen.
Jetzt lehnte er an der Wand und sah mich durchdringend an.
"Musste ein paar Kontakte knüpfen. War ein Essen von der Stiftung, die mein Stipendium zahlt", erklärte er dann. "Deswegen konnte ich nicht Absagen".
Ich nickte.
Er sah mich noch immer nachdenklich an.
Ich blickte zurück.
"Ich geh wieder ins Bett", sagte ich nach einer Weile, in der wir geschwiegen hatten.
Henrys Blick wurde plötzlich verzweifelt. Er ließ sich an der Wand nach unten gleiten und saß nun auf dem Boden.
"Ich weiß nicht", murmelte er kontextlos, ließ den Rest des Satzes in der Luft hängen und vergrub das Gesicht in den Händen.
Ich ging ganz automatisch vor ihm in die Hocke. Es brach mir das Herz.
Ich wusste, welche Welle der Furcht und Verzweiflung gerade über ihn hineinbrach.
Ich hatte das auch gefühlt.
Normalerweise hätte ich ihn umarmt. Doch jetzt hockte ich ganz planlos vor ihm. Überfordert und unsicher. Würde er wollen, dass ich ihn alleine ließ oder brauchte er mich gerade?
Ich streckte meine Hand nach ihm aus und fuhr ihm übers Haar. Er sah auf und mich an.
Seine Augen waren gerötet und seine Stirn in Falten gezogen. Ich wusste nicht, wann ich Henry zuletzt so gesehen hatte. Und ich kam nicht umhin mich selbst ein wenig dafür zu hassen.
Doch es ergab keinen Sinn, heute noch große Gespräche zu führen.
Es war gerade halb Vier durch und Henry war betrunken.
„Sollen wir morgen unsere Möglichkeiten abwägen und jetzt erstmal schlafen gehen?", fragte ich leise.
Henry nickte.
Ich stand auf und hielt ihm meine Hände hin.
Er ließ sich von mir nach oben ziehen.

Henry war mir ganz selbstverständlich in mein Zimmer gefolgt, hatte sich bis auf Boxershort und T-shirt ausgezogen und lag nun schlafend neben mir. Ich brauchte eine Weile bis ich wieder müde wurde, doch ich fühlte mich automatisch etwas besser, nur weil er neben mir lag.
Ich schlief außerdem viel ruhiger und als ich um neun aufwachte, spürte ich fast so etwas wie Zuversicht.
Henry wusste nun endlich Bescheid und wir konnten gemeinsam eine Lösung finden.
Dieses unglaublich große Geheimnis gerade vor ihm zu verbergen, hatte mich aufgefressen.
Dass ich ihn verletzt hatte und er mir vielleicht nie wieder verzeihen würde, versuchte ich zu verdrängen.
Ich sah zu ihm. Er hatte mich im Schlaf an sich heran gezogen und ich fragte mich, ob er es im wachen Zustand wohl auch gemacht hätte.
Vorsichtig löste ich mich aus seiner Umarmung und stand auf.
„Wo gehst du hin?", fragte er mit heiserer Stimme, als ich gerade meine Zimmertür öffnete.
Ich hielt inne und drehte mich zu ihm um.
Müde streckte er sich und kuschelte sich dann wieder in die Kissen.
„Ich mach uns einen Kaffee und komm wieder", antwortete ich.
Er nickte.

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