Kapitel 87

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Ich wachte nachts immer mal wieder auf. Henry kam bis mein Wecker klingelte nicht ins Bett. Ich streckte mich müde und spürte wie sich ein Knoten in meinem Bauch formte.
Ein Knoten der Wut. Aber auch der Unsicherheit.
Ich stand auf und zog mir eine Jogginghose an, ehe ich meine Zimmertür öffnete und gerädert in die Küche schlappte.
Es war zu früh und meine Nacht wenig erholsam. Ich versuchte meine Gedanken von den Fragen wegzulotsen, die sich mir immer wieder aufdrängten und welche mich kaum hatten schlafen lassen. Wo war Henry? Und würde ich mich auch zukünftig nicht auf ihn verlassen können? War es fair, ihm das zu nehmen, was er dem Anschein nach so dringend brauchte? Aber konnte ich das ohne ihn schaffen?
Bei dem Gedanken heute alleine bei meinen Eltern zum Brunch auftauchen zu müssen, beantwortete ich mir zumindest die letzte der Fragen.
Nein.
Ich merkte, wie erneut Wut in mir aufstieg, als sich Henrys  Zimmertür plötzlich öffnete und mich im Rahmen der Küchentür verharren ließ.
"Guten Morgen", sagte er und kam auf mich zu.
Er trug Boxershorts und eine geöffnete Sweatshirtjacke, aus deren Tasche er gerade sein Drehzeug kramte.
Er sah müde aus, grinste aber schief und zog mich an sich, sobald er mir gegenüber stand.
Er drückte mir einen sanften Kuss auf die Lippen, den ich nicht erwiderte, weil ich  ihn nur überrumpelt anschauen konnte.
"Ich dachte", begann ich perplex, doch Henry unterbrach mich.
"Entschuldige, dass ich nicht zu dir ins Bett kam", er fuhr sich über die kurzen blonden Haare. "Ich war hellwach, als ich hier ankam und wollte noch ein bisschen zeichnen vor dem Schlafen".
Er ging in die Küche und füllte die kleine, silberne Bialetti mit Wasser und Kaffeepulver, stellte sie auf den Herd und stellte ihn an.
"Ich hab dich gar nicht gehört", meinte ich noch immer irritiert, bewegte mich nun aber auch endlich vom Türrahmen in die Küche.
Erleichterung machte sich in mir breit. Er war hier. Er wirkte weder verkatert, noch anderweitig verhindert. Er würde mitkommen.
Ich lehnte mich an die Küchenablage und sah Henry nun liebevoll an.
"Ich hatte Angst, dass ich alleine gehen muss. Ich hab kaum geschlafen letzte Nacht", gab ich zu und Henry seufzte. Er kam erneut auf mich zu und strich mir zärtlich über die Wange.
"Tut mir Leid! Aber ich hab dir doch versprochen mitzukommen und daran halte ich mich. Ich dachte, das sei dir klar".
Ich verdrehte die Augen. "Oh bitte", sagte ich nun etwas forscher. "Tu nicht so, als sei es absolut ausgeschlossen, dass du dich auf einer Party verlierst und die Pläne für den nächsten Tag vergessen sind".
Henry grinste ertappt.
"Ja okay", räumte er direkt ein und drückte mir einen Kuss auf die Stirn, eher er in Richtung Balkon verschwand. "Ich geh eine rauchen", meinte er noch, ich schüttelte lächelnd  den Kopf.

"Also wir sagen ihnen nichts, unter keinen Umständen?", versicherte Henry sich nochmal leise, als wir vor der Tür meiner Eltern standen und ich bereits die Klingel gedrückt hatte.
"Unter keinen Umständen", bestätigte ich mit leiser, aber fester Stimme. "Und jetzt pscht".
Die Tür ging auf.
"Skara, Henry! Wie schön", meine Mutter begrüßte uns mit einem Lächeln und zog uns nacheinander in eine Umarmung.
"Hey Mom", ich atmete tief durch. Ich fühlte mich nicht wohl dabei, sie anzulügen. Noch unwohler fühlte ich mich allerdings bei dem Gedanken daran, mit ihnen reinen Tisch zu machen.
Henry begrüßte meine Mutter höflich und überreichte ihr den Strauß Blumen, den wir für sie besorgt hatten.
Wir gingen ins Haus und plauderten dabei unverfänglich.
Mein Bruder und Charlotte waren bereits da und hantierten in der Küche.
Wir begrüßten sie und ich drückte meinen Bruder etwas fester als sonst.
Eigentlich würde ich ihm gerne alles erzählen, gleichzeitig hatte ich Panik, dass er etwas merken würde.
Mein Vater saß mit Ella im Wohnzimmer und schaukelte sie beseelt in seinen Armen.
„Hi Papa", sagte ich und kam auf ihn zu.
Er löste seinen Blick beinahe widerwillig von seiner Enkeltochter und sah mich an.
Er lächelte.
Mein Herz wurde schwer.
Ich setzte mich neben ihn aufs Sofa und streichelte Ella zur Begrüßung zärtlich über die Wange.
Nachdenklich musterte ich meine Nichte, die ich plötzlich mit anderen Augen sah.
So klein, so verletzlich, so fürsorgebedürftig. So voller Liebe, so voller Leben, so ...
Ich schluckte.
"Skara nimmst du sie mal kurz, ich hol uns etwas zu trinken aus der Küche".
Mein Vater sah mich freundlich an und hielt mir Ella vorsichtig entgegen. Er musterte mich und ich wich beinahe zurück.
Hektisch stand ich auf.
Ich konnte sie nicht halten.
Ich blinzelte, ich kämpfte plötzlich gegen den dicken Kloß, der sich in meinem Hals bildete.
"Ach Quatsch. Ich mach das schon. Was möchtest du haben?", plapperte ich und war schon beinahe in der Küche, als mein Papa irritiert antwortete.

Während des Essens versuchte ich zwanghaft die Gespräche bei allen anderen zu halten, um bloß nichts selbst erzählen zu müssen.
Ich fragte andauernd nach, ließ keine Gesprächspausen zu. Es fiel anscheinend irgendwann auf, denn während ich Charlotte bis ins kleinste Detail zu ihrem vergangenen Abend befragte, drückte Henry sanft meinen Oberschenkel und flüsterte: „Entspann dich".
Ich sah ihn an und er lächelte.
Zwanghaft versuchte ich zurück zu lächeln, doch irgendwie wollte es nicht gelingen.
Mein Bruder stand auf und blickte in die Runde
„Wer möchte denn zum Anstoßen einen Sekt haben?", fragte er.
Meine Mutter und mein Vater nickten.
„Für mich nicht, danke", sagte Henry und legte lässig einen Arm auf der Stuhllehne hinter meinem Rücken ab.
„Für mich auch nicht", schloss ich mich schnell an und versuchte mich an einem ebenso entspannten Gesichtsausdruck wie dem von Henry.
Toni musterte uns irritiert. Ich konnte es ihm nicht verdenken. Sicherlich ließen sich die Familienfeiern, die ich nüchtern verbracht hatte, seit meinen Teenagerjahren an einer Hand abzählen.
„Es war beziehungsweise ist mal wieder ein Alkoholintensives Wochenende", lachte Henry schulterzuckend. Ich nickte bestätigend und ergänzte: „Genau, ich bleib deswegen lieber mal beim Saft".
Dann schenkte ich mir ein Glas ein und nahm einen großen Schluck.
Meine Mutter beäugte mich plötzlich skeptisch.
„Du hasst Karottensaft", sagte sie und ich stockte.
Das stimmte. Ich hatte Karottensaft immer verabscheut.
Bis vor ein paar Wochen.
Unsicher und langsam stellte ich mein Glas wieder auf dem Tisch ab.
„Bin irgendwie auf den Geschmack gekommen", sagte ich dann lahm und biss mir auf die Lippe, als könnte ich sie dadurch zu einem Lächeln zwingen.

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