Kapitel 76

39 5 2
                                    


Als es Abend geworden war, saß ich auf meiner Fensterbank und sah nach draußen. Der Himmel zeigte Pfirsichfarben und ich seufzte tief.
Einige male hatte ich bereits mein Handy in die Hand genommen und war kurz davor gewesen Henrys Nummer zu wählen. Ich ließ es sein.
Bei jedem Geräusch in der Wohnung spitze ich die Ohren. War er zurück?
Ich rutschte von der Fensterbank hinunter, steckte das Handy in die Tasche meiner Jogginghose und verließ mein Zimmer.
Raphis Tür war geschlossen, ich hörte dumpf zwei Stimmen durch das Holz. Ferdi war da.
Henrys Tür stand hingegen offen und das Zimmer dahinter leer.
Ich spielte mit dem Gedanken Charlotte anzurufen. Sie war doch erst vor kurzem in meiner Lage gewesen. Doch dann erinnerte ich mich daran, dass unsere Situationen bis auf das ungeborene Leben in uns, kein bisschen vergleichbar waren und ließ auch das sein.
In der Küche trank ich ein Glas Wasser, griff zwei mal in die geöffnete Chipstüte auf dem Tisch, verzog das Gesicht weil sie die Geschmacksrichtung Sour Cream and Onion hatten und griff noch ein drittes mal hinein, ehe ich zurück in den Flur schlenderte.
In dem Moment hörte ich den Schlüssel im Schloss und die Tür öffnete sich.
Ich blieb wie angewurzelt stehen.
Henry stand da und erstarrte ebenfalls kurz. Schloss dann die Tür hinter sich und sah mich beinahe schüchtern an.
„Hey", sagte er.
„Hey", antwortet ich.
Und dann warf ich mich an seine Brust. Er zögerte keine Sekunde und schlang seine Arme um mich.
Ich vergrub mein Gesicht und atmete seinen Duft tief ein. Er strich zärtlich über meinen Rücken, mein Haar, meine Arme. Hielt mich fest und ich wurde ruhiger.
„Ich wollte mir nur ein paar Sachen holen und dann wieder zu Leo", begann er. Ich schüttelte meinen Kopf ohne mich von seiner Brust zu lösen.
„Ich bleibe aber auch gerne hier. Ich dachte nur ... ich dachte du willst mich nicht sehen".
Oh Gott, fühlte ich mich beschissen.
Henry wollte Rücksicht nehmen, er wollte seinen Fehler wieder gut machen. Und ich log ihm eiskalt ins Gesicht.
Ich ertrug mich selbst nicht, aber ich brauchte Zeit.
Ich würde es ihm sagen, falls ich es behielt. Irgendwann.
Ich sah zu ihm auf. „Bitte bleib, ich brauch dich gerade".
Und das tat er.
Ich wollte in seinem Zimmer schlafen, denn mein Bett hatte mich in den letzten Stunden nur weinen gesehen.

Nachts wachte ich einige mal auf und als am Morgen mein Wecker klingelte schaltete ich ihn müde aus. Ich drehte mich auf die Seite, entschied die Uni zu schwänzen und schmiegte mich an Henry.
Er blinzelte verschlafen.
„Hast du nicht ein Seminar?", fragte er, als er verstand, dass ich nicht vorhatte aufzustehen. Ich zuckte mit den Schultern und schloss bereits wieder die Augen.
Er zog mich noch ein bisschen näher an sich, gab mir einen Kuss aufs Haar und löste sich dann aber von mir.
„So gern ich mit dir schwänzen würde, ich muss leider aufstehen. Ich habe ... einen wichtigen Termin", er stockte. Ich wusste, dass es wegen Wien war. Er musste es nicht sagen.
„Hab nen schönen Tag", murmelte ich ins Kissen, als er sich aus der Decke und meiner Umklammerung löste.
„Sehen wir uns heute Abend? Ich könnte uns was kochen", er stand jetzt bereits im Raum und suchte sich Hose und Shirt aus dem Schrank heraus.
Ich schüttelte den Kopf. „Muss arbeiten".
„Schade".

Ich war schon wieder tief und fest eingeschlafen, bevor Henry die Wohnung überhaupt verlassen hatte und als ich erneut aufwachte, war es bereits fast Mittag.
Als ich mein Handy checkte, sah ich zwei Nachrichten von Mel, eine von Henry, eine von Raphi sowie eine von meinem Bruder.
Ich öffnete keine davon und stand auf.
Ich schleppte mich unter die Dusche, um wach zu werden und trank dann in der Küche einen Tee. Durfte ich jetzt noch Kaffee trinken?
Mein Handy klingelte, ich ging ran.
„Na endlich", begrüßte Mel mich ein wenig vorwurfsvoll, „Ich hab mir schon Sorgen gemacht, dass du in deinem Selbstmitleid ertrunken sein könntest".
„Fick dich", antwortet ich.
„Na hör mal. Sei nicht so frech und mach mir lieber gleich mal die Tür auf".
Ich stöhnte.
Ich wollte allein sein.
Aber natürlich öffnete ich ihr und sie kam herein gefegt.
Sie drückte mir einen Becker mit Obstsalat in die Hand. „Frühstück", sagte sie nur und schob mich in die Küche.
„Kein Bock", entgegnete ich.
Mel nahm mir den Obstsalat wieder aus der Hand und füllte ihn in eine Keramikschüssel um. Dann nahm sie einen Joghurt aus dem Kühlschrank, klatschte zwei volle Löffel auf die bunten Früchte, streute ein bisschen Müsli darüber und schob mir die Schale hin.
Ich verdrehte die Augen.
„Was wird das?".
„Frühstück", sagte sie erneut und ihre Stimme beendete jede Diskussion.
Sie kochte sich einen Kaffee und plapperte betont entspannt vor sich hin.
Ich wusste, dass sie wegen mir heute die Uni schwänzte, aber ich sagte nichts. Ich hörte ihr mehr schlecht als recht zu und löffelte lustlos mein Müsli.
„... naja und ich dachte vielleicht magst du ja mitkommen". Sie schaute fragend zu mir herüber und ich mit großen Augen zurück.
„Man Skara", sie schenkte sich eine Tasse des frischgekochten Kaffees ein. Ich sah neidisch zu ihr herüber und beschloss, dass mit dem Koffein und der Schwangerschaft schnellstmöglich zu googeln.
„Farid, Fiz und ich wollen am Samstag in den Zoo", erklärte sie dann und ich machte noch größere Augen.
„Echt jetzt?"
Also würden sie wirklich etwas gemeinsam unternehmen. Farids Frau hatte offensichtlich zugestimmt.
„Ja und ich bin so nervös! Bitte komm mit".
Ich sah Mel zweifelnd an. Ich hatte null Bock.
„Ich weiß nicht. Ich würde mir überflüssig vorkommen".
„Skara bitte".
Ich seufzte und sagte dann natürlich „ja, okay".
Sie gab mir einen Kuss auf die Wange und zwinkerte.
„Aber wie läufts denn bei euch, erzähl mir alles", forderte ich sie dann auf, während sie ihren Kaffee trank. Es interessierte mich wirklich, aber dennoch dachte ich: Hauptsache sie redete, Hauptsache irgendetwas übertönte meine Gedanken. 

TrifoliumWo Geschichten leben. Entdecke jetzt