Kapitel 97

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Ich saß mit Gianna im leeren Eiscafé. Tizian räumte im Lager herum und ab und zu hörte man ihn laut fluchen. Gianna verdrehte jedes Mal die Augen. Seit die Polizei da gewesen war, sprach sie kaum ein Wort mit ihrem Bruder. Eine Frage der Zeit bis sie platzen würde, denn in ihren Augen sah ich, wie es in ihr brodelte.
"Ich würde es hassen, wenn du nach Wien gehst", sagte sie dann und ich nickte. "Ich würde es auch hassen", sagte ich dann und zum ersten Mal gab ich es zu. Ich hasste den Gedanken Berlin zu verlassen. Er machte mir nicht nur Angst, nein ich konnte ihn wirklich zu tiefst nicht ausstehen. Aber noch mehr hasste ich den Gedanken, dass Henry hier blieb und seine Chance in Wien verstreichen lassen würde.

"Kann Henry nicht einfach hier fertig studieren? Ich check das nicht". Gianna kippelte mit ihrem Stuhl und hielt sich an der Eistheke hinter ihrem Rücken fest.
Ich seufzte. "Klar könnte er das. Aber in Wien zu studieren wäre viel besser".
Wir schwiegen.
"Hättest dir besser mal kein Kind von dem Typ machen lassen sollen", meinte Tizian dann schulterzuckend. Er kam in den Gastraum und pfefferte eine Kiste voll gepackt mit Ordnern in die Ecke.
"Alter", begann ich empört, doch Gianna stand energisch auf und drohte ihrem Bruder mit dem Finger. Ich konnte ihre Wut im Raum beinahe spüren und rutschte automatisch ein Stück zurück. Tizian blickte seiner Schwester ausdruckslos, beinahe gelangweilt entgegen.
"Du blöder Idiot", rief sie. „ Du hättest auch viele Dinge besser gelassen! Das sag ich dir!". Sie ging auf ihn zu, ihre Augen schienen beinahe Funken zu sprühen. Es war wohl der Augenblick gekommen, an dem sie ihrer Wut Ausdruck verlieh. Tizian schnalzte mit der Zunge und drehte sich dann ungerührt weg. Seine Schwester packte ihn am Arm.

"Glaubst du ich weiß nicht, dass du hier in Papas Café krumme Dinger gedreht hast?", schrie sie dann weiter, ihre Stimme war anklagend, wütend, enttäuscht. „Er würde sich schämen! Er hätte das nie gut geheißen! Hast du ihm genauso ins Gesicht gelogen, wie mir? Sei wenigstens ehrlich. Einmal!". Sie sprach noch immer laut, doch ihre Stimme zitterte plötzlich und ich hatte das Gefühl, dass ich bei diesem Gespräch nicht dabei sein sollte. Ich saß ganz versteinert da und sagte kein Wort.
Tizian schüttelte die Hand seiner Schwester ab und mit einem Mal war er wütend. Er schrie zurück. "Natürlich hat er es gewusst! Was glaubst du, wie wir die verdammte Miete gezahlt haben, Gianna? Sei nicht so naiv. Von den paar Kugeln Eis?!", er lachte freudlos auf. „Papa hat nie gefragt, wo ich die Kohle her hatte. Weil er gewusst hat, dass ich uns jeden Monat den Arsch gerettet hab. Ich!" Er klopfte sich frustriert auf die Brust.

Gianna wich zurück und starrte ihren Bruder an. Tränen glitzerten nun in ihren Augen. Sie war geschockt, ebenso wie ich.
Tizian trat gegen einen der Metallstühle. Scheppernd flog er um und rutschte quer durch das Café.
Niemand zuckte auch nur mit der Wimper.
"Ich kann mir deine Moral nicht leisten, Gianna", sagte er dann leise und ich schluckte.
Gianna sagte nichts. Mit halb geöffnetem Mund sah sie ihren Bruder an und schwieg. Was sollte sie auch schon antworten.
"Tizian", flüsterte sie dann aber doch. Er drehte sich um und ging. Draußen vor dem Eiscafé setzte er sich auf die Betonstufe und zündete sich eine Zigarette an.
Gianna ließ die Schultern hängen und dreht sich zu mir um. Sie setzte an, um etwas zu sagen, schüttelte aber dann den Kopf, deutete ein entschuldigendes Lächeln an und verschwand im Lager. Ich sah wie sie mit den Tränen kämpfte. Ich stand auf, um ihr Freiraum zu geben und verließ ebenfalls das Café.

Draußen setzte ich mich neben Tizian auf den Boden.
„Ich hab das nicht böse gemeint, ne?", sagte er leise. „Das mit dem Baby".
Ich nickte und legte meinen Kopf auf seiner Schulter ab. „Ich weiß".
Tizian drückte seine Kippe aus und legte seinen Kopf auf meinem ab, ganz kurz nur, aber es bedeutete viel.
„Gianna wird's verstehen", sagte er dann nachdenklich und piddelte am abgewetzten Stoff seiner Sneaker herum. „So läufts eben".
Ich antwortet nicht.
Keine Ahnung, wie es lief. Keine Ahnung, ob Gianna es verstehen würde. Sie war immer so stolz darauf gewesen, dass ihre Familie sich nicht hatte runterziehen lassen. Dass sie „ehrlich ihr Geld verdienten", obwohl sie lebten wie sie lebten.
Aber ich verstand Tizian. Er hatte immer für sie gesorgt. Francesco war zu gut für die Welt gewesen und Gianna war noch ein Kind, als ihre Mutter ging.
„Tizian", setzte ich an, doch ich wusste nicht was ich sagen wollte.
Er kam mir zuvor: „Es kann sein, dass ich verurteilt werde", sagte er ganz nüchtern.
„Falls ich in Knast gehe, Skara, sorg dafür, dass sie mich nicht hasst. Kannst du das für mich machen?".
Ich sah ihn mit großen Augen an und er blickte ernst zurück.
Er machte sich ehrlich Sorgen und ich musste schlucken. Mir war nicht klar gewesen, wie übel es aussah.

„Knast? Tizian sei ehrlich, wie schlimm ist es?".
Er grinste. Doch es sah so, so falsch aus.
Und traurig.
"Du weißt, wie meine Akte aussieht", sagte er nur. "Die werden diesmal nicht nachsichtig sein".
Er zuckte mit den Schultern.
Als wäre es einfach so. Als würde alles seinen geregelten Gang gehen.
Als wäre es von vornherein klar gewesen, dass es mal so sein würde.
Ich wollte das nicht akzeptieren. Ich konnte das nicht akzeptieren.
Mir wurde wieder einmal schmerzlich bewusst, dass mein Leben so anders war und deswegen sagte ich: "Ich besorg dir nen Anwalt". Ich stand auf und zog mein Handy aus der Tasche.
Tizian stand ebenfalls auf. "Skara, lass gut sein", ich hob energisch meine Hand und brachte ihn zum Schweigen. Es tutete bereits und kurz darauf nahm mein Bruder ab.
"Toni? Ich brauch deine Hilfe".

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