Kapitel 37

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„Sieht Henry das auch so?", fragte Raphi dann überraschenderweise und drückte seine Zigarette aus. Er verschränkte fröstelnd die Arme vor der Brust und lehnte sich an das Balkongeländer. „Wieso sollte er nicht?", fragte ich.
„Ich glaube er hat die halbe Nacht kein Auge zugetan und ist heute morgen hundemüde in die Uni verschwunden. Er meinte er müsse da noch etwas fertig machen, aber ich glaube er wollte dir einfach nicht über den Weg laufen". Ich war komplett verwirrt. Henry war heute Nacht hier gewesen? Er hatte gar nicht bei Pia übernachtet? Ich wollte etwas erwidern, doch Raphi fuhr fort. „Skara ich kenn dieses Hin und her zwischen dir und Henry seit wir 16 sind. Ihr könnt mir nichts mehr vormachen und wenn ich sehe, welche Blicke ihr euch zuwerft, wie ihr euch berührt oder gerade nicht berührt... Redet miteinander, sonst geht es dieses mal vielleicht nicht mehr so glimpflich aus, wie die letzten male".
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich wollte mich irgendwie verteidigen, aber warum eigentlich? Ich wollte alles abstreiten. Ich wollte mir und Raphi einreden, dass ich letzte Nacht keinen Fehler gemacht hatte. Dass ich generell keinen Fehler gemacht hatte. Ich blieb stumm.

Gegen Nachmittag hörteich aus meinem Zimmer wie die Wohnungstür auf und wieder zu ging. Henry warheimgekommen und verschwand direkt in seinem Zimmer. Ich zog mir kurz die Deckeüber den Kopf und wäre gerne so liegen geblieben, doch ich riss mich zusammen,stand auf und klopfte an seiner Tür. Ein genervtes „Was ist?", kam von drinnenund ich öffnete. Er lag auf seinem Bett, hatte noch Mütze und Schal an, undwand seinen Blick von der Decke zu mir. „Was willst du?", fragte er und klangdabei alles andere, als an einem Gespräch mit mir interessiert. „Können wirreden?", fragte ich. Mein Herz klopfte wie wild, doch meine Stimme klang ruhig.„Ungern", antwortete Henry und ich verdrehte die Augen. Ich ging trotzdem insein Zimmer und schloss die Tür hinter mir. Er setzte sich in seinem Bett aufund zog seinen Schal und seine Mütze aus, warf sie achtlos auf den Boden. Ichsetzte mich auf seine Bettkante, so knapp, dass ich beinahe herunter fiel. „Esist komisch zwischen uns. Ich will das so nicht", sagte ich dann und war zumersten mal seit langer Zeit ehrlich mit ihm. Henry nickte zu meinem Erstaunen.„Wir hätten nicht miteinander schlafen sollen", sagte er dann und ich wünschtemir in der gleichen Sekunde, dass ich das Gespräch nicht gesucht hätte. „Was?",brachte ich mit brüchiger Stimme heraus, dabei hätte ich gerne viel coolerreagiert.
„Das hat alles wieder kompliziert gemacht. Dieses Drama von früher wollen wirdoch beide nicht mehr", sprach er weiter und klang dabei so nüchtern, dass iches ihm fast geglaubt hätte. Doch ich kannte Henry so gut. Und daraufkonzentrierte ich mich jetzt. Ich schob meine verletzten Gefühle beiseite undsah ihn prüfend an. Sein Blick wich mir aus, er spielte mit dem Saum seinesPullovers, seine Miene war kühl, doch seine Augen zeigten, dass er verletztwar. „Ich fand es schön", sagte ich und nahm dabei all meinen Mut zusammen.„Ich bereue es nicht".
Er sah mich noch immer nicht an. Vielleicht fühlte er sich schuldig wegen Pia?Vielleicht waren sie da schon eine exklusive Sache und er hatte sie mit mirbetrogen. Oh Gott. Und ich laberte hier irgendwas von, dass ich es nichtbereuen würde. Er sagte nichts und ich bekam Panik. „Trotzdem – Es wird janicht mehr vorkommen, also lass es uns doch einfach vergessen". Es kam einfachso aus meinem Mund, dabei wollte ich dieses Gespräch doch nicht so führen. Ichwollte doch ehrlich sein.
Ich stand abrupt auf und verließ fluchtartig Henrys Zimmer.
Ich könnte mich selbst ohrfeigen. Und Henry. Und Pia. Und auch Jakob. Ahhh ichhasste alles. Ich ging in mein Zimmer und schlug die Tür hinter mir zu.
Kurz darauf klopfte es, doch bevor meine Zimmertür aufging, klingelte es. Ichstöhnte genervt auf. Ich wollte einfach nur noch meine Ruhe, also rührte ichmich nicht und hörte dann Leos Stimme im Flur. Er sprach mit Henry, also hatteer wohl vor meinem Zimmer gestanden. Es klopfte erneut an meiner Tür und Leokam rein bevor ich etwas sagen konnte. „Verpiss dich", zischte ich. Denn wennich es mir recht überlegte, war ich echt sauer auf ihn. Er wusste das von Henryund Pia und hatte mir kein Wort gesagt. Arsch.
„Nette Begrüßung, danke", schmunzelte er und zog mir die Decke weg. „Aufstehen,Lothar und Evy laden zum Glühwein trinken und Weihnachtsbrot essen ein".
„Was?", fragte ich verwirrt. „Wieso hat dein Vater keinen Kater? Und warum können die sich sowas nicht mal rechtzeitig überlegen, wie normale Menschen?". Obwohl ich über die zwei schimpfte, freute ich mich eigentlich, dass sie uns einluden. Aber warum denn heute? „Sie sind nicht normal, das weißt du doch und jetzt los, steh auf und zieh dir was an". Ich warf ihm einen tödlichen Blick zu. „Du nervst mich".
Leo zuckte unbekümmert mit den Schultern.
Also stand ich auf, zog mich an und trat dann in den Flur. Raphi, Henry und Leo hatten bereits Jacken und Schuhe an und schienen nur noch auf mich zu warten.

Wir fuhren gemeinsam nach Kreuzberg. Auf der Fahrt unterhielten sich Raphi undLeo, während Henry und ich kein Wort sagten. Ich sah stur an ihm vorbei.
Bei Evy und Lothar angekommen, stieg meine Stimmung automatisch. Evy zog mich in eine feste Umarmung, als sie die Tür zu der wunderschönen, verwinkelten Altbauwohnung öffnete. Lothar scheuchte uns alle in das chaotische Wohnzimmer der beiden. Überall lagen hier Bücher, Kataloge, Fotos, Kameras, kleine Skulpturen und vieles weitere herum. Es sah aus wie immer und ich fühlte mich direkt zuhause. Lothar brachte jedem von uns eine Tasse Glühwein und wir machten es uns gemütlich. Es roch nach Weihnachten. Evy fragte Raphi sanft, wie es ihm mit der Trennung seiner Eltern ging und wir andern quatschten wild durcheinander. Ich blieb relativ ruhig, doch Lothar und ich ließen die gestrige Weihnachtsfeier lachend Revue passieren. „Und", sagte er dann plötzlich und grinste schelmisch, er Leo und Henry teilten dieses Lächeln und mein Herzschmerzte kurz. „Du und Jakob seid ja gemeinsam verschwunden?". Leo und Henry hatten bis eben miteinander rumgeblödelt, doch jetzt wurden sie still. Leo sah zu seinem Bruder und dieser zu mir.
Dann stand Henry plötzlich auf, so energisch, dass sein Stuhl dabei nach hinten umfiel und verschwand aus dem Wohnzimmer. Überrascht blickten ihm alle hinterher, außer ich. Dann lagen die Blicke fragend auf mir.

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